Wir fahren mit dem Zug in den
Hauptbahnhof Lindau ein. Wieder einmal genieße ich den Blick auf den
Bodensee links und rechts und hoffe insgeheim, dass der Bahnhof
vielleicht doch nicht auf das Festland verlegt wird – es ist
einfach zu schön, auf die Insel im Bodensee zu fahren –
Zeitersparnis hin oder her.
An diesem Tag beschäftigen mich aber
noch andere Gedanken. Die Umsteigezeit in Lindau beträgt vier
Minuten, ich muss den Anschluss Richtung Feldkirch erwischen. Und
unser Zug hat vier Minuten Verspätung. Wie soll das gehen? Ich bin
gespannt. Sicherheitshalber gehe ich im Zug ganz nach vorne. Und
sehe, auf Gleis 8 einfahrend, dass der Zug Richtung Feldkirch auf
Gleis 1 noch da steht. Vielleicht wartet er.
Vor mir stehen drei Frauen. Eine Dame
in roter Bluse bittet die hinter ihr stehenden Frauen, der Sprache
nach Schweizerinnen, ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Der
Tonfall, mit welchem sie das tut, lässt keinen Widerspruch zu. Sie
hat ein Gefährt, wie es manche zum Einkaufen verwenden, eine große
Tasche auf Rädern zum Ziehen bzw. Schieben, und das sei recht
schwer. Ich werde nicht angefragt, vermutlich weil ich selbst so
bepackt bin, den Rucksack auf dem Rücken und beide Hände voll. Die
jüngere der beiden angefragten Frauen erklärt sich bereit, der Dame
in roter Bluse ihren Einkaufswagen beim Aussteigen nach zu reichen.
Der Zug hält, wir steigen aus und bewegen uns schnell gehend oder
gar laufend zum anderen Bahnsteig.
Plötzlich höre ich einen Knall und
sehe die ältere Schweizerin auf dem Boden liegen. Einen Moment
bleibe ich stehen, bzw. bewege mich auf sie zu. Dieser Moment reicht,
um zu sehen, wie sie sich aufrichtet und etwas gequält zu der Dame
in roter Bluse sagt: „Sie sind plötzlich vor mir abgebogen“. Ein
Koffergriff scheint gebrochen und ich sehe, wie eine weitere Frau zu
Hilfe kommt. Auch die andere Schweizerin, die schon voraus geeilt
war, kehrt zurück zur am Boden Liegenden. So dass ich weiter laufe
und meinen Anschlusszug erreiche.
Die Freude, meinen Zug erreicht zu
haben, wird weniger dadurch getrübt, dass ich die Dame in roter
Bluse auch dort sehe. „So eine unmögliche Person!“ Nein, es ist
etwas anderes, das mir zu schaffen macht. Mir kommt die Stelle „er
sah ihn und ging weiter“ aus der Geschichte mit dem barmherzigen
Samariter in Erinnerung (Lk 10,29-37). Klar ist am Lindauer
Hauptbahnhof vermutlich mehr los und eher Hilfe zu erwarten als
damals auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. Und ich habe ja aus
dem Augenwinkel heraus noch die zu Hilfe eilende Person wahr
genommen. Und trotzdem: „er sah ihn/sie und ging weiter!“
Selbst wenn ich eine Stunde auf den
nächsten Zug hätte warten müssen: ich hätte es wohl noch nach
Hause geschafft. So habe ich nicht den Zug verpasst, aber eine
Gelegenheit, Nächster zu sein.
Mein Verhalten, das Versäumnis, möchte
ich nicht herunter spielen oder überspielen und auch nicht
funktionalisieren. Doch in den kommenden Tagen merke ich, wie es mir
immer dann in den Sinn kommt, wenn ich anfange, mich über einen
anderen aufzuregen oder zu ärgern. „Und Du?“ höre ich eine
leise Stimme in mir und denke an die Szene am Lindauer Bahnhof.