Freitag, 31. Januar 2020

MCI

Unser P. Peter baut ab, wird zusehends schwächer. Noch vor einigen Monaten ging er draußen die ein oder andere Runde. Dann wurde seine Haltung dabei zusehends schief. Und jetzt braucht er einen Stock und macht kleine Tippel-Schritte. Wir haben ihm auch den Rollator empfohlen, aber er hat Sorge, wie er vom Sitzen aufstehend, in diesen „hinein kommen kann“.

Aber nicht nur die körperliche Schwäche wird größer...
Schon länger blödeln wir hin und wieder über „MCI“. Eine Krankenschwester, die bei sich selbst Anzeichen von Alzheimer festzustellen meinte, ließ sich darauf hin untersuchen. Und bekam als Diagnose: „kein Alzheimer, sondern MCI, mild cognitive impairment“ (also auf deutsch: „milde Bewusstseins-Beeinträchtigung“). Wenn jetzt P. Peter wieder einmal etwas vergisst oder nach einem Wort sucht, dann lächeln wir gemeinsam mit ihm: „MCI“.

Am 30. Dezember stürzte P. Peter, vermutlich beim Aufstehen vom Frühstückstisch. P. Willi wollte sich von ihm verabschieden und fand ihn auf dem Boden, am Kopf blutend. Die Wunde schien uns so, dass sich das Nähen nahe legte und so fuhr ich mit P. Peter in die Praxis. Wo die Ärztin und die Sprechstundenhilfe etwas Neues erlebten: noch nie war ihnen ein Patient während des Nähens einer Wunde eingeschlafen. P. Peter schon. In der Praxis boten sie mir einen Rollstuhl an, um P. Peter damit zum Auto zurück zu fahren. Was wir dankbar annahmen.

Als wir eine Woche später zum Ziehen der Fäden in der Praxis waren, wies ich die Ärztin darauf hin, dass P. Peter wohl auch ziemlich erkältet sei. Sie verschrieb ihm ein Antibiotikum und bemerkte auch sein entzündetes linkes Auge, für das es noch Augentropfen gab. An die Einnahme der Medikamente muss man P. Peter dann besser erinnern bzw. ihm behilflich sein (Augentropfen).

Öfter fragt P. Peter auch, welcher Tag denn sei oder wir erinnern ihn an eine Mahlzeit. Bzw. er geht in die Sakristei der Hauskapelle und wundert sich, niemanden zu finden. Alle sind an diesem Tag in der Wallfahrtskirche.

So fragen wir uns, ob wir ihm in seiner Situation überhaupt noch gerecht werden bzw. uns auch selbst überfordern. Im Hinblick auf diese Frage gehen dann die Meinungen unter uns zum Teil auseinander. Wir schätzen sowohl P. Peters Situation als auch unsere eigenen Möglichkeiten verschieden ein. Und ziehen dementsprechend unterschiedliche Schlüsse.

Ähnlich ist es ja auch in Familien, wenn sich die Kinder zusammensetzen müssen und überlegen, ob die älter gewordenen Eltern noch in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können oder doch ein Umzug in ein betreutes Wohnen bzw. ein Altenheim angebracht ist.

Natürlich möchten wir nicht leichtfertig jemanden abschieben und sind auch bereit, das in unseren Möglichkeiten Stehende zu tun. Und manches Mal, wenn wir bei einer Mahlzeit länger brauchen, frage ich mich, ob dieses „Gebremst-Werden“ nicht auch eine Bedeutung für uns sehr auf Effektivität bedachte Menschen haben könnte.

Schon lange wollte ich Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ lesen und habe jetzt endlich damit angefangen. Der Vorarlberger Schriftsteller beschreibt in diesem Buch auf sehr berührende Weise seinen Umgang mit seinem an Alzheimer erkrankten Vater. Und ich entdecke das ein oder andere, was mir bekannt vorkommt. Auch vom eigenen Empfinden her.

Es gibt viel Übungsstoff: z.B. auch alte Geschichten wieder und wieder anzuhören, weil das dem Erzählenden offenbar gut tut. Diese Erfahrung habe ich schon bei einem anderen dementen Mitbruder gemacht. Wenn es auch auf der kognitiven Ebene schwierig geworden ist, auf der emotionalen Ebene scheint das Gespür trotz aller sonstigen Einschränkungen sehr wach zu sein...

Mittwoch, 15. Januar 2020

achtsam gehen

Normalerweise informiere ich mich über das Tagesgeschehen durch die Nachrichten im Radio. Und für das Lokale lese ich gerne die Zeitung. Hin und wieder sehe ich auch Nachrichtensendungen im Fernsehen. Und dort gab es neulich Bilder, die mir jetzt über Tage hinweg nachgehen.

Bilder aus Teheran, wo viele Menschen gegen das Regime protestieren, welches den (versehentlichen) Abschuss eines Flugzeugs erst Tage später eingestand. Auf den Bildern, die mir haften geblieben sind, ist zu sehen, wie die Protestierenden nicht über zwei auf den Boden gemalte Flaggen, die der USA und Israels, marschieren, sondern außen, an den Rändern vorbei. Und ein paar einzelne, die sich nichts dabei zu denken scheinen und über die Flaggen gehen, werden von denen, die sich am Rand bewegen, ausgebuht.

Beim Sehen dieser Bilder regten sich in mir Freude und Dankbarkeit. Das ist so etwas anderes als das Verbrennen der Fahnen, welches auch hin und wieder zu sehen ist. Menschen drücken ihren Hass aus, indem sie die Flaggen eines anderen Landes in Brand stecken, manchmal auch das Konterfei eines Politikers eben dieses Landes.
Und jetzt: obwohl es eng ist, gehen die vielen Menschen am Rand der auf den Boden gemalten Flaggen vorbei. Ich empfinde das als Ausdruck von Respekt gegenüber der anderen Nation. Bzw. lassen sich die Menschen nicht instrumentalisieren, indem sie mitten auf dem Weg, aber eben über die gemalten Flaggen hinweg, gehen.

Bei aller Freude über diese kollektive Achtsamkeit habe ich gefragt, wie achtsam ich gehe bzw. umgehe mit dem/den anderen? Es geht ja nicht nur um das Betreten einer gemalten Flagge. Und es passiert nicht nur bei „cross-culture-Begegnungen“, das ich in Gefahr bin, in Fettnäpfchen zu treten.

„Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,5). Das ist nicht nur die Aufforderung, die Mose hört, als er sich dem brennenden Dornbusch in der Wüste nähert. Darum geht es auch in der Begegnung mit anderen Menschen.

Ende des vergangenen Jahres verlegte Günter Demnig in Memmingen den 75000. Stolperstein, der an dort lebende Menschen jüdischen Glaubens erinnern soll, konkret an die Familie Rosenbaum. In mehreren Ländern Europas sind diese jetzt 75000 Stolpersteine zu finden.
An verschiedenen Orten bin ich bereits solchen Stolpersteinen begegnet und habe mich von ihnen berühren lassen. Nie bin ich darauf getreten. Wobei ich Verständnis dafür habe, dass sich die Stadt München anders entschieden hat. Und Erinnerungsplaketten lieber auf Augenhöhen anbringt, um das Betreten eines Steins, der an einen Menschen erinnert, der ja in seinem Leben schon „getreten“ wurde, zu verhindern.

Wie schön ist es, wenn mich jemand einlädt, sein Haus, seine Welt zu betreten und ich dort Gast sein darf. Mit Behutsamkeit und gleichsam wie auf Zehenspitzen versuche ich, mich aufmerksam in dieser Welt zu bewegen, wahrzunehmen, zu lernen. Immer in der Gefahr, fälschlich die Maßstäbe meiner Welt anzulegen.

Und die Bilder aus Teheran gehen mir nach und bewegen mich weiter...