Montag, 2. Juli 2012

Lindenduft


Auf dem Weg zu Fuß nach Feldkirch. Ich war schon ziemlich am Orts- das heißt Stadteingang und musste an einer Ampel stehen bleiben, als mir plötzlich ein angenehm süßer Geruch in die Nase stieg. Ich schaute um mich, in alle Richtungen, und konnte doch die Ursache des Duftes nicht ausfindig machen. Die Ampel schaltete auf grün und ich ging weiter. Auf dem Rückweg kam ich wieder an die Stelle und nahm mir zur genaueren Erkundung Zeit. Da sah ich sie. Und sie war auch als Quelle des Duftes eindeutig auszumachen: eine Linde in Blüte. Ich glaube, es liegt nicht nur daran, dass ich in Linden-berg geboren und aufgewachsen bin bzw. fünf Jahre lang als Postadresse die Linden-allee hatte. Welch ein Duft! Und vor allem, wie er sich durchsetzt an dieser Kreuzung, auf welche von drei Seiten Autos zu fahren. Unwahrscheinlich! Der eine Lindenbaum gegen die Abgase hunderter Autos. Ich erinnere mich an Paulus, der auch einmal von Duft und Wohlgeruch schreibt (2 Kor 2,14ff.). Und mit dem Bild der Linde an der Straßenkreuzung im Kopf geht es mir nicht mehr allein um den Duft an sich, sondern um den Duft unter diesen Bedingungen. Kenne ich nicht die Versuchung, mir manchmal gleichsam die Nase zu zu halten und das Weite zu suchen? Aber da steht diese Linde, verwurzelt im Erdreich und verströmt ihren Duft in die Abgas-erfüllte Luft hinein. Chancenlos? Aussichtslos? Zwecklos? Zumindest mich hat sie nicht nur froh gemacht, sondern ganz offensichtlich auch zum Nachdenken gebracht. Lass dich nicht hängen! Gib nicht auf! Nicht verduften, sondern duften!

Einige Tage später war ich bei der Beerdigung eines Mitbruders dabei, in seinem 92. Lebensjahr ist er gestorben. Und an ein paar Stellen war ich peinlich berührt, wenn nicht ein wenig traurig. In Predigt und Nachrufen klang es an: der Verstorbene war ein guter Seelsorger, aber er stand auch ganz im Leben. Er verkündigte den Glauben, aber er war auch ganz Mensch. Das sind jetzt keine wörtlichen Zitate, und ich hoffe, den Redenden gegenüber nicht ungerecht zu sein. Aber bei mir war das über den Verstorbenen Gesagte so angekommen. Und ich habe jedes mal mit einem innerlichen Unwillen und Ablehnung reagiert. Ich muss doch nicht schauen, dass ich trotz meines Glaubens und – in meinem Fall – priesterlichen Dienstes, auch ganz im Leben stehe. Das lässt sich doch überhaupt nicht trennen. Ich selbst erlebe das ja genau umgekehrt. Ich lebe doch mit dem zusammen, der selbst das Leben ist und es schenkt, ein nicht einmal durch den Tod bezwingbares Leben. Und wie sollte ich denn redlich den Glauben verkünden, ohne ganz Mensch zu sein? Ich versuche in den Worten bei der Beerdigung auch die Sehnsucht der Menschen heraus zu hören, in ihrer Sprache angesprochen zu werden. Womöglich war es das, was dem Verstorbenen gelungen war.
Ein Glaube, der „neben dem eigentlichen Leben“ gelebt würde, der ist überflüssig, der kann mir gestohlen bleiben. Aber das ist eben auch kein Glaube, man müsste das dann anders nennen.

Leben wie die Linde an der Straßenkreuzung – mittendrin und Wohlgeruch verströmend, ja, so schon eher...