Dienstag, 31. Januar 2012

Die Brille und das Kabel

Ein neuer Anfang an einem neuen Ort mit neuen Menschen. Das heißt, sowohl den Ort als auch die Menschen kenne ich schon ein wenig. Und doch ist die Konstellation und Situation neu, beginnt ein vorsichtiges Tasten...

Da hängt im Flur im ersten Stock über schönen Kreuzweg-Stationen an der Wand ein schwarzes Kabel, an dessen Ende ein Kästchen in derselben Farbe angebracht ist, auf dessen Display es rot leuchtet. Der eine Mitbruder, gerade eben woanders hin gezogen, hatte den „WLAN-REPEATER“, so heißt das Ganze, ohne großes ästhetisches Bemühen angebracht, um einen besseren Internet-Empfang zu haben. Der andere Mitbruder sagt, mit erkennbarer Entrüstung in der Stimme: „wie kann der das da hin hängen, so viel Gespür müsste er doch haben, dass das nicht passt!“

Ich komme in die Hauskapelle. An der Stirnwand ist ein großes Kreuz mit dem Gekreuzigten, rechts daneben der Tabernakel, links eine Holzablage für das Lektionar, die Heilige Schrift. Und neben der Heiligen Schrift auf der Holzablage: eine Brille, ohne Etui, einfach so. Und ich merke, dass diese mich stört – jedes mal neu, wenn ich in die Kapelle hinein komme. Die Ablage für die Heilige Schrift ist doch kein Wohnzimmertisch. Aber kann ich mein Empfinden deutlich, verständlich machen, vorsichtig aussprechen? Oder komme ich jetzt als Störenfried: „kaum zwei Tage im Haus und hat schon Sachen auszusetzen...“

Also erst einmal still sein. So bemühe mich zunächst um einen „spirituellen Zugang“ zur Brille neben der Heiligen Schrift. Ist es nicht so, dass die Heilige Schrift für mich wie die Brille sein will, durch die ich meinen Alltag betrachten möchte?
Ja, durch welche Brille hindurch nehme ich meine Umwelt und meine Mitmenschen denn wahr? Ist es eine rosarot – optimistische, oder eine eher dunkle – pessimistische? Hilft mir das Gebet an diesem Ort „Hauskapelle“ zur richtigen Perspektive auf die Welt, in der ich lebe?
Will die Brille neben dem Lektionar in der Hauskapelle solche Fragen in mir lebendig werden lassen?
Ich bin ganz begeistert über meine spirituellen Gedankenverbindungen, klopfe mir dafür beinahe selbst anerkennend innerlich auf die Schulter – und fühle doch, dass mich das konkrete Objekt „Brille“ weiterhin stört! Da helfen auch die frommen Gedanken nicht darüber hinweg...

Also aufgerafft. Es muss angesprochen werden. Wann ist ein günstiger Zeitpunkt? Ich muss den vermuteten Brillenträger- und „ableger“ auf jeden Fall dann ansprechen, wenn sonst niemand dabei ist, damit ich irgendwelche Interventionen und Parteibildungen ausschließen kann. Welch diplomatischen Verrenkungen!
Heute morgen beim Frühstück waren wir nur zu zweit. Schon beim Frühstück? Mut – es muss sein.
Also frage ich, ob die Brille dort liegen muss und bekomme die ruhige Antwort: „wenn sie Dich stört, dann tue ich sie in die Bank“.
Beim mittäglichen Gebet in der Kapelle lag die Brille dann tatsächlich nicht mehr vorne neben der heiligen Schrift – zu meiner großen Freude.
Größer ist meine Freude aber noch darüber, dass ich wirklich nur die Brille angesprochen habe und das Ganze nicht pädagogisch aufgebaut habe so in dem Stil: „schau, wie Du Dich an dem schwarzen Kabel störst, so geht es mir mit der Brille“.

Ach ja: das schwarze Kabel konnte ich auch entfernen. Es hängt jetzt, etwas weniger auffällig, bei mir im Zimmer, weil ich momentan im ersten Stock der einzige Internet-Nutzer bin.
In anderen Lebensgemeinschaften mögen es die unachtsam weg geworfenen Socken oder die nicht zugeschraubte Zahnpastatube sein, in meinem Fall waren es jetzt die Brille und das Kabel. Und vermutlich wird es nicht dabei bleiben. Damit das Zusammenleben nicht langweilig wird...

Sonntag, 15. Januar 2012

Solidarität

10 Jahre Guantanamo – ein denk-, ein fragwürdiges Jubiläum, an welches in den vergangenen Tagen erinnert wurde. Aus den Fernsehnachrichten ist mir das Bild einer jungen US – Amerikanerin geblieben, die mit anderen zusammen in Sträflingskleidung demonstrierte und erklärte, sie schäme sich, Amerikanerin zu sein. Für die meisten von uns ist Kuba weit weg. Und außerdem: wir kennen die Inhaftierten nicht persönlich.

Ich erinnere mich, dass wir während meiner Schulzeit einmal darüber diskutierten, dass wir ja Gott sei Dank das Leid Tausender Menschen nicht wie persönlich erfahrenes empfinden – wir würden wohl zugrunde gehen dabei. Alle Tsunami – Opfer wie Familienangehörige: das lässt sich einfach nicht „fühlen“.

Aber wie kann es gelingen, nicht im Zustand des völligen Unbeteiligt-Seins zu bleiben, sich wenigstens wie jene junge US-Bürgerin auf die Straße zu begeben, Menschen ins Gebet zu nehmen?
Die wenigen Monate des Jahres 2010, in welchen ich in Madrid Menschen in Abschiebehaft besuchte, haben meine Perspektive verändert. Klar: das CIE Madrid ist nicht Guantanamo, obwohl auch dieser Vergleich bisweilen angestellt wird. Und rein rechnerisch könnte man kühl sagen: was sind schon 60 Tage Gefängnis? Von denjenigen, die dort Besuche machen, sagt so etwas niemand. Wir möchten, dass (nicht nur) die spanischen Abschiebehaftzentren geschlossen werden – genau so wie Guantanamo.

Szenenwechsel. Von Mittelamerika über Spanien noch etwas näher. Mit mir im selben Haus lebt zur Zeit ein Priester, der unter anderem auch in der Gefängnisseelsorge hier in Traunstein beschäftigt ist. Am Wochenende feiert dieser Priester ziemlich regelmäßig die Eucharistie mit ganz „normalen“ Leuten, übrigens in großer räumlicher Nähe zum Gefängnis in Traunstein. Und er erzählte mir, Menschen aus seiner sonntäglichen Gottesdienstgemeinde hätten gar nicht gewusst, dass etwa im Traunsteiner Gefängnis auch Frauen inhaftiert sind.

Wie nehmen wir die Welt wahr und was von dieser Welt nehmen wir wahr? Wie könnte es gelingen, dass Leid und Not anderer für uns so erfahrbar werden, dass wir reagieren, uns in Bewegung setzen?
Der in Salzburg und London lehrende Clemens Sedmak weist regelmäßig auf Pedro Arrupe, den langjährigen General der Jesuiten hin. Dieser hatte sich dafür eingesetzt, dass Jesuiten wenigstens während ihrer Ausbildung selbst Armut erfahren. Und dass sie – auch später – Kontakt haben, mehr noch, befreundet seien mit Menschen, die arm sind. Um eben nicht nur geistlich über Armut oder über geistliche Armut zu reden, bzw. um überhaupt im tieferen Sinn erfassen zu können, worum es bei letzterer geht.

Außer meiner konkreten Erfahrung in Madrid – und ich erinnere mich an eine frühere als Praktikant bei der Bahnhofsmission in München – hilft mir, so bilde ich mir zumindest ein, die Praxis des Lebens mit einem „Wort des Lebens“, welche ich mit vielen Menschen auf der ganzen Welt teile (vgl. die Links in der Spalte rechts).

Chiara Lubich beschoss ihren Kommentar zum Wort des Lebens, welches für diesen Monat Januar ausgewählt wurde mit folgenden Worten:

Um es bei dieser Fülle an möglichen Vorsätzen nicht im Ungefähren zu belassen, wollen wir uns vornehmen, in diesem Monat nach jener „Regel“ zu leben, in der alle anderen Gebote Jesu zusammengefasst sind: in jedem Mitmenschen Christus begegnen und uns in seinen Dienst stellen.
Schließlich werden wir danach am Ende unseres Lebens gefragt werden.