Freitag, 31. Oktober 2014

Xaver und Olga

„Tschüss Uroma“ sagt die Kleine und winkt mit ihrem Händchen dem Sarg zu, vor dem sie mit ihrer Mama gemeinsam steht. Drei Tage zuvor stand sie vor dem Sarg des Uropas. Da hatte ihr der Opa gezeigt, wie das mit dem Weihwasser funktioniert. Jetzt konnte sie es schon. Für den Uropa hatte sie wohl noch ein Bild gemalt, das sie zum Sarg legte. Nachher meinte die Großtante: „wahrscheinlich hält die Kleine nach dieser Erfahrung Beerdigungen jetzt für etwas ganz Normales und wartet auf die nächste. Ist ja schön, wenn so viele Leute zusammen kommen und man hinterher noch gemeinsam im Gasthaus sitzt“.

Kurz hintereinander waren sie also gestorben, Xaver und Olga. Nach 62 gemeinsamen Ehejahren. Sie war schon längere Zeit dement. Aber dass ihr Ehemann starb, das hat sie wohl doch „mit bekommen“, oder gespürt. Und wollte dann auch nicht mehr.

So gingen wir nach Xavers Beerdigung am Mittwoch, bei der wir auch für die sterbende Olga gebetet hatten noch zu ihr ins Altenheim: der Sohn, eine Enkelin und ich, um ihr die Krankensalbung zu spenden und bei ihr und für sie zu beten. Ein ganz dichter Moment. Am nächsten Morgen starb sie.
„Das was wir Zufall nennen ist vielleicht die Logik Gottes...“ schrieben die Kinder dann über die Todesnachricht der Mutter.

Natürlich war es eigenartig: mittwochs den Vater und Opa und samstags die Mutter und Oma zum Grab zu tragen. Und doch war es auf eine gute Weise anrührend.
Von der verstorbenen Mutter hatten die Kinder geschrieben, dass sie die „Strick-Oma“ war: Kinder und Enkel hatte sie mit Pullovern, Jacken und Socken versorgt. Wie freute ich mich, als ich sah, dass der Sohn zur Beerdigung seiner Mutter in einer gestrickten Jacke erschien. „Egal, was die Leute am Ort dazu sagen“.

Und wir legten Sonnenblumen nieder, an Xavers und an Olgas Sarg. Ein leuchtendes Zeichen froher Dankbarkeit. Das war für mich überhaupt die vorherrschende Stimmung an den beiden Begräbnistagen.
Bei Olgas Begräbnis hielt ich nach Xavers Holzkreuz Ausschau - und fand es nicht. Bis mir auffiel, dass auf dem Holzkreuz, das ich sah „Olga und Xaver“ stand. Der Sohn hatte dem Bestattungsunternehmer erklärt, er könne sich schlecht zwei Kreuze vorstellen, das sähe ja aus wie ein „beginnender Heldenfriedhof“. Und der Bestatter hatte die Idee, die Schrift vom Kreuz zu lösen und eine neue Schrift anzubringen, eben die Namen beider Verstorbener. So war es dann. Und es war richtig so.
Der Kirchenchor sang jeweils schöne und passende Lieder bei der Feier der Eucharistie in der Kirche. Ein Diakon verkündete das Evangelium. Und für Olgas Begräbnis hatte der Pfarrer sehr passend als Lesung einen Abschnitt aus dem ersten Kapitel des Buches Rut ausgewählt, wo erzählt wird, wie Rut sich nicht von ihrer Schwiegermutter Noomi trennen will. „Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden“ (Rut 1,16f.).

Nach dem Begräbnis des Vaters hatte ich mich mit dem Sohn darüber unterhalten, dass ja eigentlich die Auferstehungshoffnung das Begräbnis eines Christen prägen sollte und er sich mit der schwarzen Farbe schwer tue, wie sie etwa auch an Allerheiligen vorherrschend ist. Weil diese Farbe eben dann eindeutig nicht nur mit festlicher Eleganz zu tun hat, sondern Ausdruck der Trauer ist.
Die beiden Begräbnisse von Xaver und Olga atmeten den Duft der Auferstehung – und es passte zum Leben, welches die beiden gelebt hatten.

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Zugbegleiterin

Neulich abends im Zug von Memmingen nach Mindelheim. Die Zugbegleiterin fragt einen jungen Mann nach seiner Fahrkarte – er sucht sie, vergeblich. Mit dem Gerät, das sie bei sich trägt, druckt sie ihm etwas aus, womit er innerhalb von 14 Tagen einen bestimmten Betrag überweisen kann. Er hat wohl nicht genug Geld bei sich. Falls er nicht, so erklärt sie ihm freundlich, seine Fahrkarte noch während der Fahrt findet und ihr zeigt. Dann erübrigt sich das andere natürlich.
Der junge Mann saß schon in einem anderen Zug, vor dem Umsteigen in Memmingen, in meiner Nähe. Und auf dem Bahnsteig in Memmingen sah ich ihn mit anderen jungen Männern, die seine Hosentaschen untersuchten. Und ich war skeptisch, ob er überhaupt eine Fahrkarte hatte. Die Freundlichkeit und Höflichkeit der Zugbegleiterin erzeugten von daher fast ein wenig Gewissensbisse in mir.

Danach sah ich, wie die Zugbegleiterin im Zug Abfall aufzuräumen anfing. Nanu! Muss sie das überhaupt? Andere würden das vielleicht dem Räum- und Putzpersonal überlassen. Nein, sie findet etwas auf dem Boden und wirft es in den Abfallbehälter. Dann eine Zeitung, die sie in den Altpapierbehälter gibt. Und schließlich eine auf dem Boden herum rollende Bierflasche. Sie hebt sie hoch, hält sie gegen das Licht. Offenbar ist noch ein Rest Bier drin. So geht sie mit der Flasche zur Toilette, gießt den Rest aus und wirft die Bierflasche in den Altglasbehälter. Allerhand!

Als sie mit der Bierflasche an mir vorbei geht, sage ich zu ihr: „Sie sind wahrscheinlich froh, dass die schlimme Zeit vorbei ist?“ „Oktoberfest?“ fragt sie und ich nicke. Worauf sie etwas mit den Augen rollt und dann sagt: „aber die Trachten waren schön!“ Und dabei bekommen ihre Augen ein Leuchten. „Wirklich?“ frage ich, weil ich in den vergangenen Wochen auch allerhand Menschen in Lederhose oder Dirndl auf dem Weg zum oder vom Oktoberfest in München gesehen habe und nicht immer so von der „Schönheit der Tracht“ überzeugt war. „Doch“, sagt sie, „wenn sich die Leute nicht nur schon am Morgen voll laufen lassen würden!“

Die Begegnung mit dieser Zugbegleiterin geht mir nach. Manchmal steht ja hinter meinem Namen als Berufsbezeichnung „Exerzitienbegleiter“. Sie begleitet Züge und ich Exerzitien. Besser: sie begleitet Menschen in Zügen und ich in Exerzitien.
Und da finde ich die Fähigkeit der Frau beachtlich, sich nicht über die Besoffenen zu ärgern, sondern sich über deren Trachten zu freuen. Nicht weil ich es in Exerzitien mit Besoffenen zu tun hätte. Nein, wegen der Blickrichtung. Mit denjenigen, die Exerzitien machen, blicke ich auf ihre Wirklichkeit. Und es geht beileibe nicht darum, diese irgendwie zu verklären. Aber eventuell sieht sie aus einem anderen Blickwinkel auch noch einmal anders aus. Vielleicht lässt sich eben außer dem Bier auch die Tracht entdecken.

Das Gespräch mit der Zugbegleiterin ging an der Stelle nicht weiter. Als ich in Mindelheim ausstieg, sagte sie mir: „kommen Sie gut nach Hause!“. Worauf ich mich bei ihr verabschiedete: „und ich wünsche Ihnen noch einen guten Rest-Dienst und dann einen guten Feierabend!“.