Montag, 30. November 2020

Gefangen

Was wir lesen, das lesen wir immer auf dem Hintergrund unseres eigenen Lebens, der von uns gemachten Erfahrungen, unseres gegenwärtigen Befindens.

Eines der wenigen deutschen Bücher, die ich nach Rom mitgenommen habe ist „Widerstand und Ergebung“ von Dietrich Bonhoeffer, die von seinem Freund Eberhard Bethge herausgegebenen Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Schon lange wollte ich sie lesen und jetzt tue ich es. Und ich lasse mir Zeit dabei. Die Briefe sind so dicht und sie gehen mir zu Herzen. Vor allem die Briefe, welche die Eltern Bonhoeffers an ihren Sohn schreiben. So beschränke ich mich jeweils auf Weniges.

Ein Satz aus einem Brief Bonhoeffers an Renate und Eberhard Bethge, geschrieben im Gefängnis in Berlin Tegel am 23.1.44, geht seit ein paar Tagen mit mir mit: „Mag in dem, was den Tatsachen vorausgeht, noch so viel menschliches Versagen, Sichverrechnen und Schuld liegen, in den Tatsachen selbst ist Gott“. So schreibt der seit einem Jahr in Haft sitzende, auf Befreiung hoffende Bonhoeffer. Und ich habe den Satz im Hinterkopf, wenn ich abends mit den Mitbrüdern zusammen die Nachrichten im Fernsehen anschaue und dabei von weiter gestiegenen Zahlen von Covid-Erkrankungen höre. „In den Tatsachen selbst ist Gott“. Dazu kommt mir auch die inzwischen sehr bekannte Formulierung „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“ in den Sinn, mit welcher der Jesuit Willi Lambert Wesentliches der ignatianischen Spiritualität prägnant auf den Punkt bringt.

Bonhoeffer schreibt aus der Haft, die er sinnvoll zu gestalten versucht, was ihm in erstaunlicher Weise gelingt. Nicht nur Menschen, die sich in ausdrücklicher Quarantäne befinden, erleben seit Monaten ein gewisses „Eingesperrt-“ oder zumindest Eingeschränkt-Sein. So vieles ist nicht möglich und wir wissen auch nicht so recht, wie es weiter gehen wird. Ähnlich wie Dietrich Bonhoeffer in seiner Gefängniszelle...

Und da gibt es eine weitere Lektüre, die mich seit Monaten begleitet, als Grundlage für die morgendliche Betrachtung. Es sind Exerzitienvorträge, die Kardinal Martini für Priester gehalten hat, „Popolo in cammino“ (Volk auf dem Weg) überschrieben, biblischer Hintergrund ist die Apostelgeschichte.

In dieser geht es an verschiedenen Stellen ums Eingesperrt-Sein. An zwei verschiedenen Stellen zitiert Kardinal Martini Apg 5,41: „Sie aber gingen weg vom Hohen Rat und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für seinen Namen Schmach zu erleiden.“ Welch ungewöhnliche, kaum zu erwartende Reaktion auf Beleidigt-Werden und Eingesperrt-Sein: sich freuen! Ähnlich leben es Paulus und Silas, welche in das „innerste Gefängnis“ (Martini kommentiert: „das dreckigste Loch, wo die Luft zum Atmen fehlt und Überleben unmöglich scheint“) geworfen werden. „Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Loblieder; und die Gefangenen hörten ihnen zu.“(vgl. Apg 16,24f.).

Seit ich hier in Rom in unserem Generalat lebe, beschäftige ich mich auch neu und intensiver mit dem Gründer der Missionare vom Kostbaren Blut. Der ebenfalls Gefängnis-Erfahrungen machen musste. An verschiedenen Orten – und er litt sehr darunter. Im Gefängnis in Piacenza war er dem Tod nahe. Im Rückblick hat diese Zeit aber nicht nur gesundheitliche Folgen für ihn gehabt, sondern ihn auch geistlich geprägt, wohl mehr, als wir das ahnen. Wir beten hier jeden Tag um seine Fürsprache gerade im Hinblick auf die Covid-Pandemie und viele Menschen überall auf der Welt beten mit...

Und die italienischen Mitbrüder haben nach langem Hin und Her im Oktober dieses Jahres (!) offiziell mit einer Niederlassung in Bologna begonnen, einer Stadt, in der San Gaspare ebenfalls eine Zeit in Gefangenschaft war.

Sonntag, 15. November 2020

40 Jahre JRS

Am 14. November 2020 wurde das 40-Jahr-Jubiläum des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS – Jesuit Refugee Service) begangen. Vor einem Jahr war da noch eine große, eventuell mehrtägige Veranstaltung angedacht worden. Jetzt wurde eine nachmittägliche Zoom-Konferenz daraus. An dieser konnte ich teilnehmen und sie hat mich berührt und beeindruckt.

Angesichts der aus Vietnam fliehenden Boat-People hatte 1980 der damalige Generalobere der Jesuiten P. Pedro Arrupe die Idee, etwas für diese Menschen zu tun. Wobei ich damit jetzt wohl sehr oberflächlich einen geistlichen Entscheidungsprozess formuliert habe. Natürlich kann man fragen, ob das 40-Jahr-Jubiläum eines solchen Flüchtlingsdienstes überhaupt „gefeiert“ werden kann. Was würde P. Arrupe dazu, heute sagen? Der aktuelle Direktor des JRS meinte dazu, Pedro Arrupe könnte wahrscheinlich kaum glauben, dass heute Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken. Heute ist der JRS in 56 Ländern der Welt für etwa 800.000 geflüchtete Menschen da. Wobei man davon ausgeht, dass insgesamt 80 Millionen Menschen auf der Flucht sind, von denen nur ein kleiner Teil den reichen Norden der Welt erreicht.

Im JRS arbeiten Jesuiten mit vielen Haupt- und Ehrenamtlichen zusammen, darunter sind auch Ordenschristen aus verschiedenen Gemeinschaften. Womit ich zu meiner persönlichen Geschichte mit dem JRS komme. Im Jahr 2009 sollte ein von den europäischen Missionaren vom Kostbaren Blut (C.PP.S.) lange erwünschtes Projekt seinen Anfang nehmen: eine internationale Gemeinschaft von C.PP.S. im Dienst an Immigranten. Madrid schien dafür ein geeigneter Ort und ich durfte mit dabei sein. Um mich vorzubereiten fragte ich beim österreichischen JRS-Vertreter an, ob ich eine Art Praktikum in einer JRS-Einrichtung machen könnte und er nannte mir Rom und Malta. Woraufhin ich mich für Rom entschied. Im Herbst 2009 arbeitete ich sechs Wochen beim Centro Astalli in Rom mit, hauptsächlich bei der mittäglichen Essensausgabe. Ein erster Kontakt mit einer für mich bis dahin fremden Welt. Während meiner Zeit dort bekam ich auch etwas von den anderen Aktivitäten des Centro Astalli mit: Rechtsberatung, Sprachkurse, Unterkünfte. Und nicht zuletzt Bewusstseinsbildung. Jährlich wird ein Wettbewerb für Schüler veranstaltet, wobei es darum geht, sich mit der Thematik auseinander zu setzen. Und es gibt auch Besuche von Geflüchteten in Schulen, welche dort ihre Geschichte erzählen.

Ende des Jahres zog ich dann nach Madrid. Und stellte fest, dass wir unser Projekt nicht sehr gut vorbereitet hatten. Zwar waren wir jetzt in einer Gemeinschaft zusammen, zwei spanische C.PP.S., ein italienischer und ich deutscher, dazu ein spanischer Kandidat für die Gemeinschaft und ein junger Senegalese ohne gültige Papiere. Schon diese Mischung war spannend. Aber es fehlte noch ein konkretes Arbeitsfeld. Wir wandten uns an die Vereinigung der spanischen Ordensleute, welche uns an die Jesuiten verwies. Diese wiederum erklärten, sie könnten noch Mitarbeiter im Besuchsdienst eines Abschiebehaftzentrums brauchen. Dafür erklärten wir uns bereit und das wurde für die kommenden Monate auch meine „Arbeit“. Völlig anders als bisherige „klassische“ Seelsorgsaufgaben wie Pfarrei, Gemeindemission oder Exerzitien. Wie viel habe ich gelernt! Nicht nur in der direkten Arbeit. Sondern auch weil es von „Pueblos Unidos“, einer Nichtregierungsorganisation der Jesuiten in Madrid, die wiederum mit dem JRS verbunden ist, ein ganz tolles Begleitprogramm für die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen gab. Ich erinnere mich an so manchen Vormittag, an dem wir in einem sehr kalten Saal saßen, die Jacken hatten wir nicht ausgezogen, und über unsere Arbeit reflektierten.

Ein beeindruckendes Erlebnis während des knappen Jahres in Madrid war die Teilnahme an einer Tagung in Brüssel, wo sich europäische JRS-Mitarbeiter begegneten, welche in verschiedenen Ländern Europas in Abschiebehaft-Zentren arbeiteten. Welch ein spannender, manchmal auch bedrückender Austausch! Schon damals ging es um die völlig unzureichenden Dublin-Gesetzes-Regelungen, da ist die EU inzwischen nicht wirklich weiter gekommen.

Zurück in Deutschland hat dann der Kontakt mit dem JRS nicht aufgehört. Als wir in Maria Baumgärtle vier mal nacheinander einzelne Männer als Kirchenasylanten aufgenommen hatten, war ich sehr dankbar, mich darüber mit dem Münchner JRS-Vertreter austauschen zu können.