Samstag, 31. Dezember 2022

Familie

Ende November hatte ich in einem der vatikanischen Dikasterien zu tun. Der zuständige Mitarbeiter, ein brasilianischer Priester, war noch am Telefon, als er das Zimmer betrat, in dem ich wartete. Als er das Telefonat beendet hatte, sagte er lächelnd: „meine Mutter! Sie ruft mich jeden Tag an, sie ist 92 Jahre alt und manchmal meldet sie sich mehrmals am Tag. Einmal hat sie mich an einem Tag 70-mal angerufen. Und an einem anderen Tag sagte ich ihr: `Mama, morgen geht es nicht, ich bin in einer wichtigen Besprechung´, aber natürlich hat sie sich nicht daran gehalten“.

Ein paar Tage später schrieb ich einem deutschen Ordensmann, der nach einigen Jahren in Rom nach Brüssel umgezogen ist, um dort eine Aufgabe zu übernehmen. Er antwortete mir, dass ein Vorteil des neuen Ortes auch sei, dass er mit dem Zug schneller bei seinem Vater ist, der sich über seinen Besuch freue.

Ebenfalls in dieser Zeit meldete ich mich bei einer Ordensfrau, bei der ich einige Drucksachen abholen wollte, und fragte, wann ich denn am besten kommen könne. Sie sprach mir eine Antwort auf Band und die Stimme klang sehr „gequält“, so dass ich mir schon Sorgen machte. Als ich zum vereinbarten Zeitpunkt bei ihr war, sprach ich sie darauf an, in der Vermutung, dass ihr die viele Arbeit zu schaffen macht und meine Bitte vielleicht als zusätzlicher Stressfaktor dazu gekommen war. Nein. „Wir hatten eine schwierige Situation in der Familie. Gestern haben wir erfahren, dass die zweijährige Tochter einer Nichte Leukämie hat“, so sagte sie mir und ich versprach ihr mein Gebet.

Dies sind einige Beispiele aus der letzten Zeit für ein Phänomen, das ich immer wieder wahrgenommen habe und bemerke, durchaus auch an mir selbst: auch wenn wir (als Mitglieder einer Ordens- oder anderen geistlichen Gemeinschaft) eines Tages unsere „Herkunftsfamilie“ verlassen haben, bleiben wir ihr zutiefst verbunden.

So merkte ich auf bei einem interessanten Buch, das ich vor kurzem las: „Il Vangelo secondo Marco. Una rilettura“. Luigino Bruni, ein Wirtschaftswissenschaftler, unternimmt es, das Markusevangelium zu kommentieren. Hier der entsprechende Abschnitt aus einem Buch (zuerst der Text aus dem Evangelium und dann Luigino Brunis Anmerkung dazu):

Da sagte Petrus zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.

Jesus antwortete: Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat,

wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben.

Viele Erste werden Letzte sein und die Letzten Erste.(Mk 10,28-31; EÜ 2016)

„Eine persönliche Anmerkung: Da das Leben größer ist als Theorien und die Gegenwart die Vergangenheit immer wieder überrascht und in eine Krise stürzt, stellt man bei der Betrachtung der konkreten Geschichten von Berufenen, die Mutter, Vater, Schwestern verlassen haben, um der Stimme zu folgen (manchmal ohne zu wissen, wer der Rufende war), fest, dass diese Menschen manchmal in einigen grundlegenden Phasen ihres Lebens die Erfahrung machen, dass die neue Gemeinschaft zur ersten Familie wird, die sie zurückgelassen haben. Wenn man zum Beispiel während einer Krankheit nach Hause zurückkehrt, um sich von seiner Mutter oder Schwester pflegen zu lassen, spürt man, dass diese Mutter und Schwester, die viele Jahre zuvor zurückgelassen wurden, um dem Ruf zu folgen, zu den hundert Müttern und hundert Schwestern geworden sind, die versprochen wurden, als sie für das Himmelreich zurückgelassen wurden.“ (Übersetzung A.S.)

 

 

Donnerstag, 15. Dezember 2022

Anna & Anna

2023 vollendet sie ihr 80. Lebensjahr. Die italienische Ordensfrau hat 20 Jahre in Argentinien und danach noch ein paar Jahre in Bolivien gelebt – wenn sie erzählt, tauchen immer wieder Erinnerungen daran auf. Z.B. an das klassische Asado, bei dem eine ganze Kuh gegrillt wird. Oder dass sie nach ihrer Ankunft in Argentinien zunächst auf Französisch beichtete, weil sie mit dem Spanischen noch nicht so vertraut war. Jetzt lebt sie seit sieben Jahren in Albanien. Während unseres Besuches erlebte ich sie als „diskret präsent“. In der kleinen Kirche übernimmt sie nicht nur Sakristaninnen-Dienste. Während der Liturgie schauen die Teenager zu ihr und übernehmen dann den Ton des Liedes, welches Sr.Anna angestimmt hat. Tags darauf ist Katechismus-Unterricht für die Kinder angesagt. Sr.Anna achtet darauf, dass alle einen Platz bekommen und organisiert gegebenenfalls noch weitere Stühle aus angrenzenden Räumen. Gegen Ende des Zusammenseins sorgt sie dafür, dass auch Getränke und Gebäck vorhanden sind. Zwischendurch hatte sie mich gefragt: „hast Du das Altartuch in unserer Kirche bemerkt?“ Hatte ich, und es hatte mir gefallen. „Komm mit, ich zeige Dir etwas“. Und sie führt mich in einen Raum des Schwesternklosters, das zur Hälfte auch Pastoralzentrum ist. Dort steht ein Webstuhl. „Hier ist das Altartuch entstanden. Frauen aus der Gemeinde haben es gemacht“. Zusammen mit einer Angestellten aus dem Ort versorgt Sr. Anna den kleinen Klostergarten.

Auch in der zweiten Niederlassung der Anbeterinnen des Blutes Christi in Durrës gibt es eine italienische Sr.Anna, die mich nicht weniger beeindruckt. Sie geht mit einer Krücke („ich habe Arthrose und Arthritis“) und nimmt entzündungshemmende Medikamente. Die Krücke schafft etwas Entlastung. Zwar hatte Altin, einer der Mitbrüder, gekocht, während ich mir mit zwei anderen die Stadt anschauen durfte, aber den Abwasch lässt sich Sr. Anna nicht nehmen. Wenigstens abtrocknen darf ich! Sie erklärt uns, dass in die große Pfanne, in welcher Altin die Fische zubereitet hatte, Wasser und Salz hineingehören. Das wird dann erhitzt und so lässt sich die Pfanne leichter säubern, ohne kratzen oder schaben zu müssen. „So habe ich das von meiner Oma gelernt“, sagt Sr.Anna. Und es funktioniert.

Sie ist mehr als zwei Jahrzehnte in Albanien und hat natürlich in dieser Zeit viel erlebt, Albanien ist ihr zur Heimat geworden. Am Hafen der Stadt war sie bekannt. Ein Erlebnis hat sich ihr besonders eingeprägt: einmal begleitete sie einen Transport mit Hilfsgütern aus Italien mit der Fähre nach Albanien. Und sie hatte schlicht vergessen, dass sich unter den Dingen auch ein paar Gasflaschen befanden. Die deklariert werden müssen, bzw. auf einer normalen Fähre gar nicht mitgenommen werden dürfen. Erst auf dem Schiff fiel es ihr ein: „ich habe kein Auge zugetan in dieser Nacht!“, erzählt sie. „Aber es ging alles gut!“

Die drei Mitbrüder haben sich auf den Rückweg nach Mamurras gemacht, mir bleibt noch Zeit bis zur Abfahrt der Fähre. Mit Sr.Anna gemeinsam schaue ich ihre Fotoalben an. Und sie erzählt… „Hier, siehst Du das Kind auf diesem Foto? Mit ihm hat es eine besondere Bewandtnis. Als die Serben die Menschen aus dem Kosovo vertrieben, wurde die Grenze nur zeitweise geöffnet und immer wieder geschlossen, bevor wieder eine Gruppe über die Grenze durfte. Dadurch wurden auch Familien getrennt. Das kleine Mädchen hier war auf dem Arm seiner Mutter und wollte zu seinem Vater, der die Grenze schon überschritten hatte. Die Mutter übergab ihr Kind einer Frau, damit diese es dem Vater reiche. Aber im Gedränge verlor diese ihn aus den Augen. Erst in einem Telefonat der Eltern wurde diesen mit Entsetzen klar, dass die Tochter weder bei der Mutter, noch beim Vater war. Mit Hilfe der italienischen Truppen im Land machten wir uns auf die Suche, druckten einen Handzettel mit dem Foto des Mädchens, den wir in den Flüchtlingslagern verteilten und konnten tatsächlich das Mädchen finden und seinen Eltern übergeben. Welch ein Gefühl!“

Nach dem guten Essen mittags hatte ich mich darauf gefreut, das Abendessen ausfallen zu lassen. Sr.Anna aber hatte nicht nur einen Chauffeur für mich zum Hafen bestellt, sondern diesen auch gebeten, mir eine Pizza mitzubringen. Gemeinsam mit einer Studentin, die bei den Schwestern wohnt, begleiteten sie mich bis zur Anlegestelle der Fähre…

Mittwoch, 30. November 2022

Telefonkonferenz mit Ordensmännern +/- 80

Eine Telefonkonferenz mit etwa zehn deutschsprachigen Ordensmännern verschiedener Gemeinschaften, sie haben entweder die 80 Lebensjahre bereits erreicht oder es trennen sie nicht mehr viele Jahre davon. Obwohl alle mit dem Computer arbeiten, sind sie für ihren Austausch doch bei der Telefonkonferenz geblieben und nicht zu einem Videoformat gewechselt. Mit Dankbarkeit und Staunen höre ich ihnen zu, ich kenne die meisten seit Jahrzehnten und verdanke ihnen viel…

Da ist Bruder V., der früher in der ordenseigenen Landwirtschaft hart gearbeitet hat. Später wurde er versetzt und war am neuen Ort Hausmeister und für die Pflege der Außenanlagen des Exerzitienhauses zuständig. Und jetzt plagt ihn die ein oder andere Altersbeschwerde bzw. Krankheit, „sie können mich ja nicht mehr brauchen“, sagt er. „Aber ich habe ein Motto für mich gefunden: Gott loben“, fügt er mit froher Stimme an. Und singt es uns am Telefon gleich vor: „Lobet und preiset ihr Völker den Herrn…“, „das ist mein Lieblingslied“.

Oder G. Er war lange Jahre Missionar in Brasilien und lebt jetzt in einer Gemeinschaft älterer Mitbrüder, die ähnlich wie er auf ein Leben als Missionare in aller Welt zurückblicken können. G. leidet an Depressionen, mal mehr, mal weniger. Er berichtet von einem Rosenkranzgebet mit seinen Mitbrüdern. Normalerweise gibt es da eine angestellte Frau, die es anleitet. Weil die aber zum festgesetzten Termin nicht konnte, bat sie G., das Rosenkranzgebet mit den Mitbrüdern zu übernehmen. G. ist zwar etwas ängstlich, aber er sagt zu. Und berichtet, wie einer seiner älteren Mitbrüder im Rollstuhl sich nach dem Gebet mit einem festen Händedruck und einem strahlenden Gesicht bei ihm bedankte für die Worte, die G. gefunden hatte. Wenn ich mir diese Szene vorstelle, die beiden alten Missionare, dann bekomme ich beinahe eine Gänsehaut...

R. sitzt seit einem Autounfall vor vielen Jahren im Rollstuhl. „Ich kann ja hier nicht wegspringen“, sagt er mit dem Ansatz eines Lachens, „viele Menschen kommen zu mir ins Zimmer, weil ich eben hier bin“. Und dann erzählt er: „seit einiger Zeit sind zwei Mitbrüder freundlich zu mir, die sich vorher immer über mein Verhalten beschwerten, immer etwas auszusetzen hatten. Wahrscheinlich hat sich ihr Verhalten geändert, weil ich nicht aufgehört hatte, den beiden gegenüber freundlich zu sein“.

Dass es im Kloster nicht immer spannungsfrei zugeht, wird auch bei T. deutlich. Eine Auseinandersetzung mit einem Mitbruder, mit dem er sich sonst gut versteht, machte ihm zu schaffen. Und er suchte auch Zuflucht in der Kapelle deswegen.

H. bekommt wegen seiner Makuladegeneration monatlich eine Spritze ins betroffene Auge. Zwischenzeitlich war auch das andere Auge trübe geworden und wie dankbar ist er, dass das wieder besser geworden ist.

Und dann ist Bruder B., der von seiner Covid-Erkrankung berichtet. „Aber es waren nur leichte Symptome. Und ich habe die Zeit zum Lesen genutzt, ich habe alle Sozialenzykliken gelesen, von Rerum Novarum bis Fratelli Tutti“. Hier unterbricht ihn W., der Moderator der Telefonkonferenz, damit B. uns anderen nicht in einem Vortrag alle gewonnenen Erkenntnisse seiner Enzykliken-Lektüre weiter gibt.

W. selbst, auch er hat die 80 schon hinter sich, geht mit uns seinen Kalender des vergangenen Monats durch, erstaunlich, was sich da alles findet. Und er ist sichtbar froh darüber, noch im Einsatz sein zu können, daheim und auswärts Gottesdienste zu feiern.

Der ein oder andere hat seinen Beitrag eingeleitet mit: „ich kann ja nicht viel erzählen“. Ganz im Gegensatz dazu habe ich den Eindruck eines großen Reichtums und einer Fülle an Leben…