Samstag, 15. Februar 2025

Migration und Gastfreundschaft

Wie das so geht: die Dinge, die dich beschäftigen, klingen auf einmal irgendwie gemeinsam, ergeben eine Melodie. Es gibt Zusammenhänge, an die du zunächst gar nicht gedacht hättest. So geht es mir mit meiner derzeitigen Lektüre.

Da ist zum einen ein Buch von Hein de Haas, Direktor des Internationalen Migrations-Institutes der Universität Oxford, der sich seit 30 Jahren mit globaler Migration beschäftigt. „Migrazioni. La verità oltre le ideologie. Dati alla mano“ heißt die italienische Übersetzung des unter dem Titel „How migration really works“ 2023 erschienenen Buches. Das Buch macht nachdenklich, reizt vielleicht bisweilen auch zum Widerspruch. De Haas räumt mit verschiedenen Vorurteilen auf. Tatsächlich stehen die Kapitel jeweils unter der Überschrift „Mythos“. „Mythos 1, Mythos 2 etc.“. Ich bin bei „Mythos 7 – Wir brauchen keine migrantischen Arbeitskräfte“ angelangt. Der Autor deckt populistische Tendenzen so mancher Politik auf, die Migranten (fast) zu einem „Feindbild“ erklärt, obwohl sie andererseits genau weiß, dass es ohne diese nicht ginge. Natürlich kamen mir besorgte Stimmen in Deutschland in den Sinn, die zum Ausdruck bringen, dass das Gesundheitssystem zusammenbräche, würde man tatsächlich alle Syrerinnen und Syrer sofort zurück in ihr Land schicken.

Aber natürlich liest ein Pater auch Frommes. Und da habe ich ein ganz wunderbares Buch von zwei Dominikanern entdeckt. Allein schon das finde ich toll: als Leserin oder Leser hörst Du gleichsam dem Gespräch zwischen Timothy Radcliffe und Łukasz Popko zu. Der erste wurde vielen als spiritueller Begleiter der zwei Phasen der jüngsten Weltsynode bekannt. Der zweite, jüngere, ist ein in Jerusalem lebender und lehrender Bibel-Experte. Ihr Buch heißt übersetzt: „Fragen Gottes, Fragen an Gott. Im Gespräch mit der Bibel“. Das dritte Kapitel trägt als Überschrift: „Wo ist Sara, deine Frau?“ und behandelt die bekannte Geschichte vom Besuch Gottes bei Abraham in Mamre (Gen 18). Abgesehen vom Gesprächscharakter des Buches gefällt mir, dass die Autoren jedem Kapitel ein Kunstwerk zuordnen. Wie könnte es anders sein: beim dritten Kapitel ist es die bekannte „Dreifaltigkeitsikone“ von Andrei Rublev, die sich in der Moskauer Tretjakov-Galerie befindet.

In ihrem Gespräch umkreisen Radcliffe und Popko die Themen Besuch, Gastfreundschaft, Zuhause. Die beiden sind keine Romantiker: Fremde aufzunehmen wird als Herausforderung deutlich benannt. Beim Lesen bin ich vor allem beim Zusammenhang von einerseits dem Gefühl, zu Hause zu sein, ein Zuhause zu haben und andererseits der Bereitschaft und Fähigkeit zur Gastfreundschaft hängen geblieben. Und ohne etwas überinterpretieren oder mit hausgemachter Psychologie arbeiten zu wollen: kann es sein, dass unsere gesamtgesellschaftlichen Schwierigkeiten mit der Aufnahme von Fremden nicht zuletzt auch mit der Erfahrung, dem Gefühl eines existentiellen Unbehaust-Seins zu tun haben? Das hieße, es geht gar nicht zuerst darum, dass uns die Fremden etwas wegnehmen, sondern dass sie uns darauf aufmerksam machen, dass uns etwas fehlt! Und weil diese Erkenntnis unbequem bis schmerzhaft ist, erweckt sie Ablehnung, Abwehr…

Damit zur dritten Lektüre. Nach dem Tod des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler (am 1.2.25) lese ich die ein oder andere Ansprache, die er gehalten hat. Schon während seiner Amtszeit hat mich dieser evangelische Christ durch seine Haltung und seine Worte beeindruckt. Und vor allem in Erinnerung geblieben ist mir sein sich oft wiederholender Hinweis auf Afrika. Für ihn war die Zukunft Europas eng mit Afrika verknüpft und er sah dabei – alles andere als blauäugig – Afrika nicht nur und zuerst als „Krisenkontinent“. Mit großer Dankbarkeit (und ein wenig Wehmut angesichts der aktuellen politischen Lage) freue ich mich noch einmal an den Worten Horst Köhlers.

 

Freitag, 31. Januar 2025

Bräuche und Rituale

Vor zwei Tagen, am 29. Januar, haben wir das Fest der Gründerin der Gemeinschaft der Ordensfrauen, die mit uns hier im Haus leben, gefeiert: Bolesława Lament gründete 1905 die Missionarinnen von der Heiligen Familie. Natürlich war die Liturgie an diesem Tag feierlich. Aber noch ein anderes Detail machte das Fest deutlich. Denn der 29. Januar fiel ja in diesem Jahr auf einen Mittwoch. Und ähnlich wie der Freitag ist auch der Mittwoch für unsere Schwestern ein Fasttag, es wird Fisch gegessen. Am vergangenen Mittwoch jedoch gab es nicht nur Fleisch, sondern sogar ein Eis zum Nachtisch. Und wir dachten über derartige Bräuche und Rituale nach, deren Bedeutung insgesamt gesehen abzunehmen scheint. Manche empfinden sie wohl als „verstaubt“, veraltet, nicht mehr zeitgemäß, vielleicht sogar einengend. Und manches ist ja vielleicht auch inhaltsleer geworden. Weihnachten liegt einen guten Monat zurück und es gehört in gewissen Kreisen dazu, sich zu fragen, was daran äußeres Ritual und was Ausdruck gelebten Glaubens ist.

Ich selbst stehe Bräuchen und Ritualen zunächst einmal positiv gegenüber, sie sind mir eher ein heilsames Gerüst und Geländer als eine einschnürende, erdrückende Last. Wenn ich am Sonntagmorgen zur Messe in das nahe gelegene Klarissenkloster gehe, dann begegnen mir auf dem Weg regelmäßig joggende und Rad fahrende Menschen, natürlich auch solche, die mit einem oder mehreren Hunden unterwegs sind. Und ich frage mich dann bisweilen, ob die Menschen sich auch um die „Fitness ihrer Seele“ kümmern, dafür auch Zeit investieren, so wie für das Joggen am Morgen. Zu meinem Sonntag gehört (oft nach dem Frühstück) ein Spaziergang schnellen Schrittes im nahe gelegenen Park dazu.

Es ist schon einige Jahre her, dass ich nach einer Taufe von der Familie zum Essen eingeladen und dabei um ein Tischgebet gefragt wurde. (Damals habe ich dieser Bitte noch entsprochen, inzwischen gebe ich sie meist an die Familie zurück und frage, ob nicht ein Familienmitglied beten möchte.) Ich weiß noch, wie nach dem Gebet jemand Freude strahlend meinte: „war das schön. Das müssten wir sonst auch machen!“. Und ja: es macht einen Unterschied aus, mit einem Tischgebet die Mahlzeit zu beginnen. Gerade hatten wir die Schwester von Juan mit ihren drei Töchtern zu Besuch: zwei Zwillingsmädchen mit 11 und die jüngere Schwester mit 9 Jahren. Auch hier haben wir beim Vorbeten abgewechselt und die Mädchen (mit Unterstützung durch ihre Mutter) zum Vorbeten eingeladen.

Zweimal in der letzten Zeit habe ich von Untersuchungen über erstaunlich langlebige Ordensleute, Frauen wie Männer, gelesen. Zu den Faktoren, welche scheinbar ein langes Leben fördern, gehört zum einen der soziale Zusammenhalt. Während ältere Menschen manchmal vereinsamen, geschieht das in Klöstern nicht so leicht. (Ausnahmen mögen die Regel bestätigen!) Aber zum anderen gehört auch eine geregelte Tagesstruktur dazu, welche Halt und Orientierung gibt.

Und wenn dann noch das Kirchenjahr mit seinem Reichtum dazu kommt…