Dienstag, 15. April 2025

Mission (Missio Dei) in der heutigen Welt

Die Steyler Missionare feiern in diesem Jahr ihr 150jähriges Bestehen. Offizieller Titel der (mit rund 6000 Mitgliedern, die größte Gruppe darunter sind inzwischen die Indonesier) sechstgrößten Männergemeinschaft innerhalb der katholischen Kirche ist Societas Verbi Divini (auf Deutsch: Gesellschaft des göttlichen Wortes), Ordensabkürzung also SVD (was hin und wieder als „sie verteilen Drucksachen“ gedeutet wurde/wird).

Anlässlich ihres Jubiläums veranstalteten die Steyler Ende März einen dreitägigen Kongress im an der römischen Jesuitenuniversität Gregoriana angesiedelten Kongresszentrum Matteo Ricci. Das Generalatshaus der Steyler ist nicht weit von unserem entfernt und in der Generalleitung ist ein Deutscher, Br. Michael. Von ihm erfuhr ich vom Kongress und konnte mich anmelden.

„Missio Dei in der heutigen Welt. Wunden heilen, durch die Postmoderne herausgefordert, von Kulturen lernend, durch Religionen inspiriert“, so der Titel (in meiner Übersetzung), der sich dann auch in der Struktur der Tage widerspiegelte.

Der Hauptorganisator P. Stanislaus Lazar SVD hat eine großartige Arbeit geleistet und ich bin immer noch beeindruckt vom Kongress.

Die Struktur der Tage war jeweils gleich: eine Keynote-Speech zum Auftakt, danach drei bzw. vier Workshop-Sessions, eine Kaffeepause und anschließend noch einmal zwei Vorträge im Plenum. Zwei der ursprünglich eingeplanten Keynote-Speaker mussten ersetzt werden. Thomas Halik, auf den ich mich sehr gefreut hatte, war erkrankt. Für ihn sprang ein junger Kollege (ebenfalls von der Karls-Universität aus Prag) ein. Felix Wilfred war gestorben und wurde durch Catherine Cornille vom Boston College ersetzt.

Mir gefiel die ökumenische Weite und ich genoss unterschiedliche Zugänge. Am zweiten Tag etwa sprach eine jüngere niederländische Professorin, ordinierte protestantische Pastorin und Mutter zweier Kinder. Sie ging durchaus ganzheitlich-kreativ vor in ihrer Auseinandersetzung mit christlicher Mission und Postmoderne. So verließ sie einmal kurzzeitig ihr Rednerpult, um „stille Post“ zu spielen. Sie flüsterte einem in der ersten Reihe etwas ins Ohr mit der Bitte, ihre Botschaft „weiter zu flüstern“. Ungefähr nach zehn Personen, welche die Botschaft jeweils weiter geflüstert hatten, fragte sie, was der Letzte in der Reihe gehört hatte. „Postmodernity“. Worauf sie verriet, was sie dem Ersten ins Ohr geflüstert hatte: „The postman is dirty“. Tja, Vorsicht also…

 

Nachdenklich machte mich ein in Brasilien lehrender Xaverianer-Missionar, der sich eher kritisch bezüglich des „Dialogs“ zeigte. „Wir gehen vorsichtig damit um, weil er trotz aller wohlwollenden Äußerungen nicht auf Augenhöhe geführt wird und deswegen manchmal kein echter Dialog ist“. Ähnlich äußerte sich auch noch jemand anderer während der Tagung im Hinblick auf den interreligiösen Dialog. „Manchmal hat man den Eindruck, dass da eine Gruppe `über den Tisch gezogen´ werden soll“. Ob ich dieses Thema bisher zu unbedarft angegangen bin?

 

Nachdem die Steyler Medienprofis sind, wurden die meisten Vorträge aufgezeichnet und können auf ihrem YouTube-Kanal noch einmal angeschaut werden. Natürlich wird auch ein Tagungsband veröffentlicht werden. Im Generalat haben sie übrigens ein kleines Fernsehstudio eingerichtet und produzieren auch regelmäßige Nachrichtensendungen von hoher Qualität.

 

Nicht zuletzt gefiel mir in diesen Tagen die Mischung aus einem durchaus hohen akademisch-intellektuellen Niveau und der Bodenhaftung andererseits. Es tat gut, unter und mit diesen Menschen zu sein.

Montag, 31. März 2025

"Niemand rettet sich selbst" (Papst Franziskus)

Kaum hatte ich den letzten Post eingestellt, überkamen mich Zweifel. Sind das etwa „verschrobene Theologen-Gedanken“, die mit dem Leben konkreter Menschen und ihren Fragen herzlich wenig zu tun haben? Ist das Anliegen „seine Seele zu retten“ überhaupt noch eines? 

Heute scheint es doch eher um die nötige Rettung des Klimas oder gleich der Welt zu gehen. Firmen, Unternehmen oder manchmal auch gleich ganze Staaten sollten irgendwie gerettet werden. Wobei mir dazu die folgende bekannte Geschichte einfiel:

Ein Kind wollte mit seinem Vater spielen. Da der Vater weder Zeit noch Lust zum Spielen hatte, kam ihm eine Idee, um das Kind zu beschäftigen.

In einer Zeitung fand er eine detailreiche Abbildung der Erde. Er riss das Blatt mit der abgebildeten Welt aus der Zeitung und zerschnitt es in viele kleine Einzelteile. Das Kind, das Puzzles liebte, machte sich sofort ans Werk und der Vater zog sich zufrieden zurück.

Aber schon nach kurzer Zeit kam das Kind mit dem vollständigen Welt-Bild. Der Vater war verblüfft und wollte wissen, wie es möglich war, in so kurzer Zeit die Einzelteile zu ordnen.

„Das war ganz einfach!“, antwortete das Kind stolz. „Auf der Rückseite des Blattes war ein Mensch abgebildet. Damit habe ich begonnen. Als der Mensch in Ordnung war, war es auch die Welt.“

Ähnlich ist die Geschichte, welche vom Kirchenlehrer Franz von Sales überliefert wird. Als er eines Tages von einem anderen gefragt wurde, wie es möglich wäre, sich für den Frieden einzusetzen, lautete die Antwort: „Du kannst damit beginnen, die Tür leise zu schließen“.

Ganz fundamental möchte ich aber noch an etwas anderes, ganz Wichtiges, erinnern. Ohne die eigene Verantwortung unterbewerten zu wollen, sollten wir vermutlich das „Retten“ immer auch im Passiv denken. Für einen Missionar vom Kostbaren Blut, wie ich es bin bzw. immer mehr zu werden versuche, ist das entscheidend. Ich bin, wir sind gerettet, ein anderer ist für mich/uns in die Bresche gesprungen. Das Wissen darum mag mit Freude und Dankbarkeit und ja – einer gewissen Leichtigkeit – erfüllen.

Und damit können wir – in der Haltung von Mitarbeitenden – uns wieder ans „Retten“ machen…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Samstag, 15. März 2025

"Rette deine Seele" ?

Solch ein Satz scheint nicht nur völlig außer Mode, sondern zudem theologisch fragwürdig zu sein, Stichwort „Heilsindividualismus“. „Fragwürdig“ heißt „des (Nach-)Fragens würdig“, also möchte ich das an dieser Stelle tun.

„Rette deine Seele“ steht als Inschrift auf vielen so genannten „Missionskreuzen“. Früher gab es in katholischen Pfarrgemeinden regelmäßig (z.B. alle 10 Jahre) eine sogenannte „Volksmission“, später auch Gemeindemission genannt. Mehrere Mitbrüder einer Ordensgemeinschaft kamen für 10 Tage oder zwei Wochen in eine Pfarrei, um dort durch Predigten, Gespräche und Beichtdienst und anderes den Glauben der Menschen zu stärken oder neu zu beleben. Einige Jahre war ich in solchen Teams aktiv und habe viele schöne Erinnerungen daran. Andere erinnern sich dagegen an Angst machende „Höllenpredigten“. Was ich nie erlebt habe, was aber wohl vor meiner Zeit oft eine solche Mission beschloss, war das Errichten eines (meist etwas größeren) Missionskreuzes, z.B. neben der Kirche. Die klassische Aufschrift auf einem solchen Kreuz, neben dem Jahr der Mission ist eben „Rette deine Seele“. Die Frage, ob damit nicht der Blick auf unzulässige Weise eingeengt wird, besteht natürlich zu Recht. Soll und darf ich mich tatsächlich allein auf die Rettung meiner Seele konzentrieren? Spätestens nach dem II. Vatikanischen Konzil mit seiner Communio-Ekklesiologie und der neuen Betonung der Kirche als Volk Gottes und noch mehr im Hinblick auf die Synodalität als „gemeinsames Unterwegs-Sein“ ist klar, dass wir miteinander zu Gott kommen müssen.

Aber muss das Ganze so gegensätzlich, ja unvereinbar verstanden werden? Könnte „Rette deine Seele“ gar die Aufmerksamkeit auf das lenken, was heutzutage unter Authentizität verstanden wird? 

Ich erinnere mich an manche Osternacht, in welcher ich, angeregt auch durch Impulse von anderen, die Mitfeiernden dazu aufgefordert habe, bei der Erneuerung ihres Taufversprechens auf die richtige Antwort zu achten. „Glaubt ihr...?“ heißt die Frage und die Antwort „Ich glaube“ (nicht „wir glauben“). Beim Sprechen des Glaubensbekenntnisses gibt es – auch je nach Sprache – beide Versionen: „ich glaube an Gott…“ und „Wir glauben an Gott“.

Wir bekennen miteinander unseren Glauben, der uns verbindet, und den wohl jede und jeder in seiner Lebensrelevanz ein wenig anders erklären würde. Klar werden wir immer auch vom Glauben der anderen mitgetragen, so wie wir mit unserem Glauben und Zweifeln andere mittragen.

Bei meinen Gedanken fühle ich mich bestätigt durch Timothy Radcliffe, der im Gespräch mit seinem Mitbruder Łukasz Popko (vgl. den vorletzten Post vom 15.2.25) sagt:

Das Christentum beinhaltet einen gewissen Individualismus. Natürlich sind wir nicht ausschließlich isolierte Individuen. Wir sind die Frucht von Familien und Freundschaften. Aber eine wahre Familie formt uns zu Personen, welche eine individuelle Wahl zu lieben und zu leben treffen, und der Nutzen der Individualität besteht darin, den anderen und die große Familie Gottes zu wählen. (…) Die Liebe ist eine individuelle Wahl und das Fundament der Gemeinschaft.

Mir geht eine Auslegung des Gleichnisses von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1-12) nach. Jemand verglich das Öl in den Krügen mit der Liebe, zu der sich der einzelne Mensch entscheiden muss, wo er oder sie letztlich unersetzbar ist. Deswegen können die klugen Jungfrauen nicht einfach Öl in die Krüge der törichten Jungfrauen schütten.

In der Gemeinschaft der Glaubenden möchte ich meinen Teil tun und dabei keineswegs nur auf mein Heil, meine Rettung schauen.

Freitag, 28. Februar 2025

Michele

Am 17. Februar verstarb Michele (sprich: Mikele), den ich im Männerwohnheim der Schwestern Mutter Teresas hier in Rom kennengelernt hatte. Eigentlich wollte ich zuerst in diesem Post noch einmal an den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler erinnern, der Staatsakt an seinem Begräbnistag geht mir nach. Weil aber eben an Horst Köhler schon anderweitig erinnert wurde, gebe ich hier gleichsam Michele „den Vorzug“. 

Wie gesagt, ich hatte ihn in der „casa di accoglienza delle missionarie della carità” kennengelernt, während meines Einsatzes in der Küche dort. Etwa eine Stunde vor dem Mittagessen tauchte Michele auf und fragte, ob er das Wasser auf den Tisch stellen solle. Das war wohl seine Aufgabe: mit Wasser gefüllte Krüge auf die Tische in den beiden Speisesälen zu stellen. Und es wiederholte sich jedes Mal dasselbe Ritual: Michele kam mit seiner Frage und die Schwester bat ihn, doch später wieder zu kommen, worauf noch etwas bezüglich der Zeit verhandelt wurde. Nachdem Michele aber nun schon einmal da war, gab es auch das ein oder andere Mal ein kurzes Gespräch. Wobei ich große Verständnisschwierigkeiten hatte, so war etwa das Gebiss Micheles nicht sehr vollständig. Einmal ging es um scharf gewürzte Speisen und – wenn ich ihn richtig verstanden habe – er rühmte sich, da allerhand auszuhalten, bzw. ausgehalten zu haben.

Nachdem ich meinen Arbeitsbereich geändert hatte und von der Küche (im Erdgeschoss) in den ersten Stock „befördert“ wurde, gehört seitdem ein kurzer Spaziergang, 30 bis 45 Minuten, mit einigen der Männer zu meinen Aktivitäten. Auch Michele ging ein paar Mal mit und war bei den Langsameren. Einmal schimpfte er, ob mit mir oder einfach laut vor sich hin, das war mir nicht ganz klar, weil die Wegstrecke zu lang war. Und er hängte sich bei mir ein, worauf ich nicht vorbereitet war, was ich aber dann zuließ und was ihm wirklich eine Hilfe schien. Ich war froh, als wir wieder beim Haus ankamen. „Ich habe Schwierigkeiten mit dem Herzen und bin über 70“, so hatte er mir einmal anvertraut.

Und an einem Mittwoch sagte mir eine der Schwestern, Michele sei ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie wusste auch, dass er Jahrzehnte auf der Straße gelebt hatte. An den folgenden Mittwochen erkundigte ich mich immer nach Michele, zwischendurch war wohl die Frage, ob er in eine Pflegeeinrichtung umziehen könne.

Und am 19.2. sagte mir Schwester Dina Jo, dass Michele gestorben sei, tags zuvor hatten sie die Messe für ihn gefeiert. Im Hinblick auf sein Begräbnis sei alles noch sehr schwierig, weil er keine Dokumente hatte. Ein Mann, ganz allein, dazu ohne jedes Dokument, aus dem z.B. ein Geburtsort ersichtlich ist. Ganz konkret stellt sich natürlich die Frage, wer die Beerdigungskosten übernimmt.

So möchte ich an dieser Stelle an Michele erinnern. Andere Männer im Wohnheim erzählten lächelnd von gemeinsamen Gymnastik-Übungen, welche von Freiwilligen dort hin und wieder angeleitet werden, wie Michele mit seinen Armen „Flugbewegungen“ gemacht hatte. Die Männer erzählten das aber nicht spöttisch, sondern mit einer gewissen Freundlichkeit, fast Zärtlichkeit...

Ich hoffe und bete und glaube, dass Michele jetzt ein Zuhause gefunden hat.

Samstag, 15. Februar 2025

Migration und Gastfreundschaft

Wie das so geht: die Dinge, die dich beschäftigen, klingen auf einmal irgendwie gemeinsam, ergeben eine Melodie. Es gibt Zusammenhänge, an die du zunächst gar nicht gedacht hättest. So geht es mir mit meiner derzeitigen Lektüre.

Da ist zum einen ein Buch von Hein de Haas, Direktor des Internationalen Migrations-Institutes der Universität Oxford, der sich seit 30 Jahren mit globaler Migration beschäftigt. „Migrazioni. La verità oltre le ideologie. Dati alla mano“ heißt die italienische Übersetzung des unter dem Titel „How migration really works“ 2023 erschienenen Buches. Das Buch macht nachdenklich, reizt vielleicht bisweilen auch zum Widerspruch. De Haas räumt mit verschiedenen Vorurteilen auf. Tatsächlich stehen die Kapitel jeweils unter der Überschrift „Mythos“. „Mythos 1, Mythos 2 etc.“. Ich bin bei „Mythos 7 – Wir brauchen keine migrantischen Arbeitskräfte“ angelangt. Der Autor deckt populistische Tendenzen so mancher Politik auf, die Migranten (fast) zu einem „Feindbild“ erklärt, obwohl sie andererseits genau weiß, dass es ohne diese nicht ginge. Natürlich kamen mir besorgte Stimmen in Deutschland in den Sinn, die zum Ausdruck bringen, dass das Gesundheitssystem zusammenbräche, würde man tatsächlich alle Syrerinnen und Syrer sofort zurück in ihr Land schicken.

Aber natürlich liest ein Pater auch Frommes. Und da habe ich ein ganz wunderbares Buch von zwei Dominikanern entdeckt. Allein schon das finde ich toll: als Leserin oder Leser hörst Du gleichsam dem Gespräch zwischen Timothy Radcliffe und Łukasz Popko zu. Der erste wurde vielen als spiritueller Begleiter der zwei Phasen der jüngsten Weltsynode bekannt. Der zweite, jüngere, ist ein in Jerusalem lebender und lehrender Bibel-Experte. Ihr Buch heißt übersetzt: „Fragen Gottes, Fragen an Gott. Im Gespräch mit der Bibel“. Das dritte Kapitel trägt als Überschrift: „Wo ist Sara, deine Frau?“ und behandelt die bekannte Geschichte vom Besuch Gottes bei Abraham in Mamre (Gen 18). Abgesehen vom Gesprächscharakter des Buches gefällt mir, dass die Autoren jedem Kapitel ein Kunstwerk zuordnen. Wie könnte es anders sein: beim dritten Kapitel ist es die bekannte „Dreifaltigkeitsikone“ von Andrei Rublev, die sich in der Moskauer Tretjakov-Galerie befindet.

In ihrem Gespräch umkreisen Radcliffe und Popko die Themen Besuch, Gastfreundschaft, Zuhause. Die beiden sind keine Romantiker: Fremde aufzunehmen wird als Herausforderung deutlich benannt. Beim Lesen bin ich vor allem beim Zusammenhang von einerseits dem Gefühl, zu Hause zu sein, ein Zuhause zu haben und andererseits der Bereitschaft und Fähigkeit zur Gastfreundschaft hängen geblieben. Und ohne etwas überinterpretieren oder mit hausgemachter Psychologie arbeiten zu wollen: kann es sein, dass unsere gesamtgesellschaftlichen Schwierigkeiten mit der Aufnahme von Fremden nicht zuletzt auch mit der Erfahrung, dem Gefühl eines existentiellen Unbehaust-Seins zu tun haben? Das hieße, es geht gar nicht zuerst darum, dass uns die Fremden etwas wegnehmen, sondern dass sie uns darauf aufmerksam machen, dass uns etwas fehlt! Und weil diese Erkenntnis unbequem bis schmerzhaft ist, erweckt sie Ablehnung, Abwehr…

Damit zur dritten Lektüre. Nach dem Tod des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler (am 1.2.25) lese ich die ein oder andere Ansprache, die er gehalten hat. Schon während seiner Amtszeit hat mich dieser evangelische Christ durch seine Haltung und seine Worte beeindruckt. Und vor allem in Erinnerung geblieben ist mir sein sich oft wiederholender Hinweis auf Afrika. Für ihn war die Zukunft Europas eng mit Afrika verknüpft und er sah dabei – alles andere als blauäugig – Afrika nicht nur und zuerst als „Krisenkontinent“. Mit großer Dankbarkeit (und ein wenig Wehmut angesichts der aktuellen politischen Lage) freue ich mich noch einmal an den Worten Horst Köhlers.

 

Freitag, 31. Januar 2025

Bräuche und Rituale

Vor zwei Tagen, am 29. Januar, haben wir das Fest der Gründerin der Gemeinschaft der Ordensfrauen, die mit uns hier im Haus leben, gefeiert: Bolesława Lament gründete 1905 die Missionarinnen von der Heiligen Familie. Natürlich war die Liturgie an diesem Tag feierlich. Aber noch ein anderes Detail machte das Fest deutlich. Denn der 29. Januar fiel ja in diesem Jahr auf einen Mittwoch. Und ähnlich wie der Freitag ist auch der Mittwoch für unsere Schwestern ein Fasttag, es wird Fisch gegessen. Am vergangenen Mittwoch jedoch gab es nicht nur Fleisch, sondern sogar ein Eis zum Nachtisch. Und wir dachten über derartige Bräuche und Rituale nach, deren Bedeutung insgesamt gesehen abzunehmen scheint. Manche empfinden sie wohl als „verstaubt“, veraltet, nicht mehr zeitgemäß, vielleicht sogar einengend. Und manches ist ja vielleicht auch inhaltsleer geworden. Weihnachten liegt einen guten Monat zurück und es gehört in gewissen Kreisen dazu, sich zu fragen, was daran äußeres Ritual und was Ausdruck gelebten Glaubens ist.

Ich selbst stehe Bräuchen und Ritualen zunächst einmal positiv gegenüber, sie sind mir eher ein heilsames Gerüst und Geländer als eine einschnürende, erdrückende Last. Wenn ich am Sonntagmorgen zur Messe in das nahe gelegene Klarissenkloster gehe, dann begegnen mir auf dem Weg regelmäßig joggende und Rad fahrende Menschen, natürlich auch solche, die mit einem oder mehreren Hunden unterwegs sind. Und ich frage mich dann bisweilen, ob die Menschen sich auch um die „Fitness ihrer Seele“ kümmern, dafür auch Zeit investieren, so wie für das Joggen am Morgen. Zu meinem Sonntag gehört (oft nach dem Frühstück) ein Spaziergang schnellen Schrittes im nahe gelegenen Park dazu.

Es ist schon einige Jahre her, dass ich nach einer Taufe von der Familie zum Essen eingeladen und dabei um ein Tischgebet gefragt wurde. (Damals habe ich dieser Bitte noch entsprochen, inzwischen gebe ich sie meist an die Familie zurück und frage, ob nicht ein Familienmitglied beten möchte.) Ich weiß noch, wie nach dem Gebet jemand Freude strahlend meinte: „war das schön. Das müssten wir sonst auch machen!“. Und ja: es macht einen Unterschied aus, mit einem Tischgebet die Mahlzeit zu beginnen. Gerade hatten wir die Schwester von Juan mit ihren drei Töchtern zu Besuch: zwei Zwillingsmädchen mit 11 und die jüngere Schwester mit 9 Jahren. Auch hier haben wir beim Vorbeten abgewechselt und die Mädchen (mit Unterstützung durch ihre Mutter) zum Vorbeten eingeladen.

Zweimal in der letzten Zeit habe ich von Untersuchungen über erstaunlich langlebige Ordensleute, Frauen wie Männer, gelesen. Zu den Faktoren, welche scheinbar ein langes Leben fördern, gehört zum einen der soziale Zusammenhalt. Während ältere Menschen manchmal vereinsamen, geschieht das in Klöstern nicht so leicht. (Ausnahmen mögen die Regel bestätigen!) Aber zum anderen gehört auch eine geregelte Tagesstruktur dazu, welche Halt und Orientierung gibt.

Und wenn dann noch das Kirchenjahr mit seinem Reichtum dazu kommt…

 

 

Mittwoch, 15. Januar 2025

Weihnachtsurlaub-Nachgedanken zu Liturgie und Leben

Während des Weihnachtsurlaubs fand ich die Dezember-Ausgabe der Herder-Korrespondenz und in dieser ein Interview mit dem irischen Bischof Paul Tighe, der seit 2017 Sekretär des Päpstlichen Rates für die Kultur ist. Es war eine Nebenbemerkung im Gespräch „über Künstliche Intelligenz und Digitalität“, die mir nachgeht. Wenn ich Bischof Tighe recht verstanden habe, dann bringt er Digitalität mit Interaktion in Verbindung und sieht in diesem Zusammenhang einen gewaltigen Nachhol- bzw. Änderungsbedarf im kirchlichen Geschehen oder Leben. Die klassische Predigt in der Eucharistiefeier ist ja tatsächlich zunächst einmal nicht unbedingt interaktiv und eine sehr eigene Form der Kommunikation. Einer redet, die anderen hören zu, wenn sie es denn tun. 

Während ich gedanklich noch dem Interview nachhänge, höre ich (immer noch im heimatlichen Deutschland) von einer Cousine, die in München schon ein paar Mal beim Projekt des „go-sing-choir“ mitgemacht hat. Für acht Euro kann man an einem Abend teilnehmen, an dem unter Anleitung eines Dirigenten gemeinsam mit 500 (!) Menschen ein Lied geprobt, bzw. einstudiert und am Ende des Abends vor laufenden Kameras und Mikrofonen aufgeführt wird (zu sehen auf Youtube). Die Eintrittskarten für diese „gonsingchoir“-Abende, die einmal monatlich stattfinden, sind schnell verkauft und die Videos zeigen Menschen, die mit Begeisterung, wenn nicht sogar Hingabe singen.

Vielleicht vergleiche ich jetzt Unvergleichbares oder ziehe voreilig Schlüsse. Ich sehe die Freude von Menschen, die acht Euro bezahlen, um gemeinsam ein Lied einzuüben und aufzuführen. Und ich habe andererseits den Eindruck, dass vielen Mitfeiernden einer Eucharistiefeier oder auch einer anderen liturgischen Feier etwas bei solchen Feiern fehlt, bzw. sie den Eindruck haben, selbst mit ihrem Leben nicht darin vorzukommen.

Wie damit umgehen?

Erstens weiß ich, dass ich unzulässig verallgemeinert habe. Wie viele Menschen finden Nahrung für ihr Leben im regelmäßigen Mitfeiern einer Sonntagsmesse, ohne dass sie diese Tatsache irgendwie überschwänglich zum Ausdruck bringen würden.

Zweitens fühle ich mich als Vorsteher von Eucharistiefeiern in die Pflicht genommen. Wie kann ich Brücken bauen zu den Mitfeiernden und für sie? Predigen war für mich nie ein einseitiges Kommunikationsgeschehen: zum einen fließen in das Gesagte Erfahrungen aus konkreten Begegnungen mit Menschen ein, zum anderen reagiere ich auch hin und wieder auf einen Gesichtsausdruck, ein Lächeln oder Kopfschütteln eines Zuhörers oder einer Zuhörerin. Manchmal würde ich am Beginn einer Sonntagsmesse die Mitfeiernden gerne fragen: „mit welchem Wort (der Schrift) hast Du die vergangene Woche gelebt?“

Drittens habe ich als Mitfeiernder schon öfter Respekt vor den anderen Mitfeiernden empfunden, wenn sie da sind, obwohl… Z.B. die Gestaltung wenig einladend ist, die Predigt schlecht zu verstehen oder inhaltlich wenigstens hinterfrag- wenn nicht angreifbar. Tatsächlich gehen ja heute zumindest in Städten und Ballungszentren die Menschen zur Sonntagsmesse „ihrer Wahl“, nicht unbedingt in ihre (Wohn-)Pfarrei.

Viertens kann ich ohne die Eucharistie nicht leben. Und nehme deswegen als Mitfeiernder allerhand in Kauf. Ich glaube an die Möglichkeit der Begegnung mit Jesus in diesem Sakrament, auch wenn mich manches oder gar vieles am konkreten Vollzug der Feier stört oder gar abstößt. Das Ganze hängt für mich wohl damit zusammen, dass die Feier eingebettet ist in das konkrete Leben und es von daher Anknüpfungspunkte gibt, wie ich die Feier (zunächst einmal unabhängig von ihrer „Stimmigkeit“) und meinen Alltag verbinden kann.

So will ich gleichzeitig auf die Kultur der Feier und auf den konkreten Alltag blicken und hoffe, Brücken bauen zu können…