Mit wachsender Begeisterung lese ich die Briefe von Giovanni Merlini an Maria De Mattias. Wer waren die beiden? Merlini war Missionar vom Kostbaren Blut, einer der wichtigsten Mitarbeiter des Gründers der Gemeinschaft, Kaspar del Bufalo, und auch sein übernächster Nachfolger in der Leitung derselben. Kaspar plante neben der Gründung der Männer- auch eine Frauengemeinschaft. Dafür hielt er Ausschau nach einer geeigneten Leitungs- bzw. Gründungspersönlichkeit und fand diese schließlich in Maria De Mattias. Die konkrete Begleitung der De Mattias beim Aufbau der Frauengemeinschaft der Anbeterinnen des Blutes Christi übergab Kaspar dann Merlini. Und von daher rührt ein uns erhaltener Briefwechsel. Ich lese seit Monaten immer wieder einmal in einem Band, der (nur) Merlinis Briefe enthält. Und bin erstaunt, mit welcher Feinfühligkeit und mit welchem Geschick Merlini die junge Frau begleitet. Einerseits ermutigt er sie und stärkt ihr den Rücken, andererseits fordert er sie aber durchaus zur Eigenverantwortung und erklärt ihr, dass sie gewisse Entscheidungen doch selbst treffen solle, ohne lange bei ihm nachzufragen.
Eine Passage aus dem Brief vom 3. September 1859 von Merlini an De Mattias möchte ich hier (in meiner Übersetzung) wiedergeben. Vielleicht als Vorbemerkung: die Anbeterinnen des Blutes Christi waren, anders als ihr Ordensname das vermuten ließe, zunächst einmal Lehrerinnen. Sie errichteten eine Schule nach der anderen und in Verbindung damit praktisch auch immer eine Ordensniederlassung, wo die Schwestern – Lehrerinnen lebten. Um an einem konkreten Ort solch ein Unternehmen zu beginnen, brauchte es außer der materiellen Grundlage (ein Haus, die Schwestern mussten verdienen, der Lebensunterhalt gesichert sein...) auch die Zustimmung des zuständigen Bischofs, es ging ja auch um eine klösterliche Niederlassung. Und die Verhandlungen mit dem ein oder anderen Bischof gestalteten sich aus verschiedenen Gründen schwierig. Soweit zum Hintergrund der folgenden Zeilen:
Wenn der Bischof Fehler findet, sollten wir uns daran erinnern, dass nur Gott allein keine Fehler macht. Auch die herausragendsten Menschen irren: sollten wir also beunruhigt sein? Nein, aber achten Sie darauf, Gott nicht zu beleidigen. Wenn wir zum Beispiel in einer Angelegenheit einen Fehler machen, ohne böse Absicht, wo ist also die Schuld? Der (unser) Wille ist durch die Gnade Gottes gut und aufrecht. Wir machen Fehler, weil wir erbärmliche Geschöpfe sind, und das ist der Grund, dass wir uns vor Gott immer mehr erniedrigen. Ich komme zu dem Schluss, dass Gott es manchmal zulässt, dass wir einen Fehler machen, zum Beispiel bei einem Vertrag. Und warum hat Gott das zugelassen? Es ermutigt und gibt Frieden; es lässt uns Zuflucht zu Gott und größeres Vertrauen üben...
Keinen Fehler zu begehen, das wäre eine Versuchung, die, wenn sie überwiegen würde, uns vom Willen Gottes entfernen würde, der will, dass wir durch Leiden wirken...
Welch eine Kultur im Umgang mit Fehlern und Niederlagen! Wie heilsam für unsere „Selbstoptimierungsgesellschaft“, die ja andererseits an ihre Grenzen stößt. Sehr schön fand ich das neulich in einem Vortrag von Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer (Univ. Freiburg) Anfragen an das durchoptimierte Selbst aus der Perspektive christlicher Anthropologie erläutert.
Der November bietet sich durchaus an, sich darüber Gedanken zu machen, z.B. bei einem Friedhofsbesuch. Auch das Verfolgen der Corona-Berichterstattung kann helfen. Bei Paul M. Zulehner habe ich einmal den Gedanken gefunden, dass die Menschen heute zwar länger leben als früher, aber gleichzeitig auch kürzer, weil – ohne den Glauben an ein ewiges Leben – alles in die kurzen Erdenjahre hinein gepackt werden muss. (Ich meine, Zulehner bezog sich konkret auf Marianne Gronemeyers Buch „Das Leben als letzte Gelegenheit“.) Menschen, die an ein ewiges Leben glauben, haben diese Schwierigkeit nicht. Wobei es auch da eine Versuchung geben könnte, vor der Merlini im selben Brief an Maria De Mattias warnt:
„halten Sie die Versuchung fern, einfach alles schleifen zu lassen...“ Der Glaube an ein ewiges Leben schenkt einerseits Gelassenheit, aber recht verstanden und gelebt, lässt er mich meine Erdenjahre als mit Verantwortung zu lebendes Geschenk verstehen.
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