Ein neuer Anfang an einem neuen Ort mit neuen Menschen. Das heißt, sowohl den Ort als auch die Menschen kenne ich schon ein wenig. Und doch ist die Konstellation und Situation neu, beginnt ein vorsichtiges Tasten...
Da hängt im Flur im ersten Stock über schönen Kreuzweg-Stationen an der Wand ein schwarzes Kabel, an dessen Ende ein Kästchen in derselben Farbe angebracht ist, auf dessen Display es rot leuchtet. Der eine Mitbruder, gerade eben woanders hin gezogen, hatte den „WLAN-REPEATER“, so heißt das Ganze, ohne großes ästhetisches Bemühen angebracht, um einen besseren Internet-Empfang zu haben. Der andere Mitbruder sagt, mit erkennbarer Entrüstung in der Stimme: „wie kann der das da hin hängen, so viel Gespür müsste er doch haben, dass das nicht passt!“
Ich komme in die Hauskapelle. An der Stirnwand ist ein großes Kreuz mit dem Gekreuzigten, rechts daneben der Tabernakel, links eine Holzablage für das Lektionar, die Heilige Schrift. Und neben der Heiligen Schrift auf der Holzablage: eine Brille, ohne Etui, einfach so. Und ich merke, dass diese mich stört – jedes mal neu, wenn ich in die Kapelle hinein komme. Die Ablage für die Heilige Schrift ist doch kein Wohnzimmertisch. Aber kann ich mein Empfinden deutlich, verständlich machen, vorsichtig aussprechen? Oder komme ich jetzt als Störenfried: „kaum zwei Tage im Haus und hat schon Sachen auszusetzen...“
Also erst einmal still sein. So bemühe mich zunächst um einen „spirituellen Zugang“ zur Brille neben der Heiligen Schrift. Ist es nicht so, dass die Heilige Schrift für mich wie die Brille sein will, durch die ich meinen Alltag betrachten möchte?
Ja, durch welche Brille hindurch nehme ich meine Umwelt und meine Mitmenschen denn wahr? Ist es eine rosarot – optimistische, oder eine eher dunkle – pessimistische? Hilft mir das Gebet an diesem Ort „Hauskapelle“ zur richtigen Perspektive auf die Welt, in der ich lebe?
Will die Brille neben dem Lektionar in der Hauskapelle solche Fragen in mir lebendig werden lassen?
Ich bin ganz begeistert über meine spirituellen Gedankenverbindungen, klopfe mir dafür beinahe selbst anerkennend innerlich auf die Schulter – und fühle doch, dass mich das konkrete Objekt „Brille“ weiterhin stört! Da helfen auch die frommen Gedanken nicht darüber hinweg...
Also aufgerafft. Es muss angesprochen werden. Wann ist ein günstiger Zeitpunkt? Ich muss den vermuteten Brillenträger- und „ableger“ auf jeden Fall dann ansprechen, wenn sonst niemand dabei ist, damit ich irgendwelche Interventionen und Parteibildungen ausschließen kann. Welch diplomatischen Verrenkungen!
Heute morgen beim Frühstück waren wir nur zu zweit. Schon beim Frühstück? Mut – es muss sein.
Also frage ich, ob die Brille dort liegen muss und bekomme die ruhige Antwort: „wenn sie Dich stört, dann tue ich sie in die Bank“.
Beim mittäglichen Gebet in der Kapelle lag die Brille dann tatsächlich nicht mehr vorne neben der heiligen Schrift – zu meiner großen Freude.
Größer ist meine Freude aber noch darüber, dass ich wirklich nur die Brille angesprochen habe und das Ganze nicht pädagogisch aufgebaut habe so in dem Stil: „schau, wie Du Dich an dem schwarzen Kabel störst, so geht es mir mit der Brille“.
Ach ja: das schwarze Kabel konnte ich auch entfernen. Es hängt jetzt, etwas weniger auffällig, bei mir im Zimmer, weil ich momentan im ersten Stock der einzige Internet-Nutzer bin.
In anderen Lebensgemeinschaften mögen es die unachtsam weg geworfenen Socken oder die nicht zugeschraubte Zahnpastatube sein, in meinem Fall waren es jetzt die Brille und das Kabel. Und vermutlich wird es nicht dabei bleiben. Damit das Zusammenleben nicht langweilig wird...