Zurzeit lese ich „Per motivi di giustizia (Aus Gründen der Gerechtigkeit)“ einen dicken Schmöker (mehr als 500 Seiten, die Fußnoten sind auf der Seite des Verlags im Internet abrufbar, noch einmal 119 Seiten) von Marco Omizzolo. Dem Autor war ich als einem der Referenten eines Webinars im vergangenen März begegnet. Ein sehr interessantes Webinar zum Thema Migration, mitorganisiert von DIALOP, einer Gesprächsplattform von Christen und Marxisten. Der italienische Soziologe Marco Omizzolo beeindruckte mich unter anderem, weil er offensichtlich nicht nur theoretische Forschungen betreibt, sondern sich zum Beispiel auch monatelang unter indische Erntehelfer in der Provinz Latina gemischt hatte, um deren Lebens- und Arbeitsbedingungen kennen zu lernen.
Zu Latina habe ich einen Bezug, weil ich dort, in der Stadt,
in meinem „ersten Italienjahr“ zwei Wochen verbracht hatte, um nach einem
Hörsturz Sitzungen in der Überdruckkammer eines Krankenhauses zu absolvieren.
Nach dem Webinar im März war mir Omizzolo im Gedächtnis
geblieben. Dass ich mir jetzt sein Buch gekauft habe, hatte einen konkreten
Auslöser, der im vergangenen Juni einige Tage lang die italienischen
Nachrichten mitprägte: der Tod von Satnam Singh, einem indischen Erntearbeiter,
das italienische Wort ist „bracciante“, welches sowohl mit „Tagelöhner“, als
auch mit „Erntehelfer“ bzw. „Hilfsarbeiter“ übersetzt werden kann. Satnam Singh
war bei einem tragischen Arbeitsunfall mit einer Maschine (wohl zum Einpacken
von Gemüse in Plastik) der rechte Arm abgetrennt worden. Sein Arbeitgeber
packte den Verunfallten ins Auto, den abgetrennten Arm in eine Plastikkiste, in
welche sonst Gemüse hineinkommt, und fuhr den armen Mann und seinen Arm – nein,
nicht ins Krankenhaus, sondern nach Hause. Wo er sowohl dem Verunfallten als
auch dessen Ehefrau die Handys abnahm, damit sie den Unfall nicht melden
könnten. Jemand aus der Nachbarschaft verständigte aber dann den
Rettungsdienst, Satnam Singh wurde mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus nach
Rom geflogen und starb dort 36 Stunden später, er hatte zu viel Blut verloren gehabt.
Beim Lesen des Buches von Marco Omizzolo wird deutlich, dass
Satnam Singh kein Einzelfall ist. Die Erntearbeiter, sehr viele aus Indien (vor
allem Punjab), aber auch aus Osteuropa, werden ausgebeutet: Zwölf Stunden
Arbeit am Tag bei vier Euro Stundenlohn sind keine Seltenheit, und nicht immer
wird dieser Lohn ausbezahlt. Natürlich arbeiten viele schwarz, ohne Vertrag.
Leider spielen indische Landsleute oft keine gute Rolle, schon bei der
Anwerbung möglicher Arbeitskräfte in Indien, aber auch konkret vor Ort, wo sie
als „Vorarbeiter“ zur Ausnutzung anderer beitragen.
Das „Agro-Business“ selbst setzt derweil Milliarden um, Obst und Gemüse werden auch in Länder nördlich von Italien exportiert.
Vor dem Hintergrund solcher Geschichten – und im Omizzolo-Buch finden sich weitere dramatische und erschreckende – wirken manche Migrations-Diskussionen absurd und surreal. Mancher Erntearbeiter wäre tatsächlich besser daran (gewesen), wenn ihm die Einreise unmöglich gemacht worden wäre. Nie hätte er erleben und erleiden müssen, auf solche Weise ausgenutzt und auch misshandelt zu werden. Ohne irgendwie vereinfach zu wollen: stecken nicht hinter dem Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen von Fluchtursachen und -bedingungen und der Behandlung von Menschen als „Arbeitssklaven“ ähnliche Muster? Was, wer zählt?
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