Donnerstag, 31. Oktober 2024

Herz ist Trumpf

Unter den Neuerscheinungen auf dem religiösen Buchmarkt in der letzten Zeit fielen mir zwei Titel auf: „Herzensbildung“ von Klaus Mertes, dem leidenschaftlichen Pädagogen. Untertitel: „Für eine Kultur der Menschlichkeit“. (Eine Rezension zum Buch z.B. hier: https://sinnundgesellschaft.de/herzensbildung/). Und kurz darauf „Herzschlag“ des Hildesheimer Bischofs (und Herz-Jesu-Priesters) Heiner Wilmer. Untertitel: „Etty Hillesum – eine Begegnung“. (Auch hierzu ein Tipp: https://www.herder.de/communio/spiritualitaet/bischof-heiner-wilmer-begegnet-der-in-auschwitz-ermordeten-tagebuchschreiberin-etty-hillesum-herzschlag/). Beide Bücher sind bei Herzer, pardon Herder, erschienen. Schon die Tagebücher Etty Hillesums, mit der Heiner Wilmer gleichsam ins Gespräch tritt, tragen den Titel „Das denkende Herz (der Baracke)“.

Die beiden Bücher schienen mir beinahe wie eine Vorbereitung eines anderen „Herzenstextes“. Bereits im Juni vergangenen Jahres hatte Papst Franziskus seine Enzyklika zur Herz-Jesu-Verehrung angekündigt und am 24. Oktober wurde sie nun veröffentlicht. Ein erstes Mal habe ich sie gelesen, und sie scheint mir zu dicht und tief, um schnell, jetzt gleich, auf der Stelle, einen Kommentar abzugeben. Ich möchte den Text zur (langsamen) Lektüre, zur Meditation empfehlen. Mit ein wenig heimlicher Freude habe ich mich daran erinnert, dass uns während des Studiums der damalige Assistent im Fachbereich Altes Testament an der Uni Salzburg, Prof. Dr. Friedrich Vinzenz Reiterer, darauf hingewiesen hat, dass die liturgischen Texte am Herz-Jesu-Fest eigentlich Kostbar-Blut-Texte seien. Immerhin zitiert Papst Franziskus in seiner Enzyklika den spanischen Theologen Olegario González de Cardedal (Nr, 63), der „die Spiritualität des kostbaren Blutes, die Verehrung des Herzens Jesu, die eucharistischen Frömmigkeitsformen“ in dieser Reihenfolge nacheinander nennt. Wobei das nicht das Wichtigste ist!

Beim Lesen und Nachdenken erinnerte ich mich noch an zwei andere „Herz-Bücher“, die ich mit Gewinn gelesen habe und weiterempfehlen kann. Das eine stammt vom Geigenbauer Martin Schleske, „Herztöne“. Mit dem Untertitel: „Lauschen auf den Klang des Lebens“. (Martin Schleskes erstes Buch „Der Klang – vom unerhörten Sinn des Lebens“ hat 12 Auflagen und 100.000 Exemplare erreicht und ist in mehrere Sprachen übersetzt worden).

Und schließlich: „Dein Herz an Gottes Ohr. Einübung ins Gebet“, eine wunderbare Gebetsschule des früheren Aachener Bischofs Klaus Hemmerle.

„Der Mensch von heute ist oft zerstreut, gespalten, fast ohne ein inneres Prinzip, das in seinem Denken und Handeln Einheit und Harmonie schafft. Vielverbreitete Verhaltensmodelle verschärfen die technologisch-rationelle oder, umgekehrt, triebmäßige Dimension«, zitiert Franziskus in seiner Enzyklika (Nr. 9) seinen Vorgänger Johannes Paul II und fährt fort: „Es fehlt das Herz.“ Hier fiel mir ein, dass ich einmal gehört habe, Martin Buber habe das „mit ganzem Herzen“ in Dtn 6,5 mit „mit geeintem Herzen“ übersetzt. Eben: nicht zerrissen, zerstreut…

„Es fehlt das Herz“. Ich meine, diese Diagnose stimmt und ist bedenkenswert. Beim Blick in die täglichen Nachrichten erschüttert außer der ganz offensichtlichen Grausamkeit an vielen Orten dieser Erde der Widerspruch zwischen einer technisch hoch entwickelten Menschheit einerseits und dem nicht gelingenden Zusammenleben auf so vielen Ebenen auf der anderen Seite. Papst Franziskus legt eine für viele vermutlich unerwartete Hilfestellung vor.

Ich wünsche uns „ein hörendes Herz“, worum der junge König Salomo Gott bittet (1 Kön 3,9), um gut unterscheiden zu können.

 

Dienstag, 15. Oktober 2024

Obst, Gemüse, Sklaven

Zurzeit lese ich „Per motivi di giustizia (Aus Gründen der Gerechtigkeit)“ einen dicken Schmöker (mehr als 500 Seiten, die Fußnoten sind auf der Seite des Verlags im Internet abrufbar, noch einmal 119 Seiten) von Marco Omizzolo. Dem Autor war ich als einem der Referenten eines Webinars im vergangenen März begegnet. Ein sehr interessantes Webinar zum Thema Migration, mitorganisiert von DIALOP, einer Gesprächsplattform von Christen und Marxisten. Der italienische Soziologe Marco Omizzolo beeindruckte mich unter anderem, weil er offensichtlich nicht nur theoretische Forschungen betreibt, sondern sich zum Beispiel auch monatelang unter indische Erntehelfer in der Provinz Latina gemischt hatte, um deren Lebens- und Arbeitsbedingungen kennen zu lernen.

Zu Latina habe ich einen Bezug, weil ich dort, in der Stadt, in meinem „ersten Italienjahr“ zwei Wochen verbracht hatte, um nach einem Hörsturz Sitzungen in der Überdruckkammer eines Krankenhauses zu absolvieren.

Nach dem Webinar im März war mir Omizzolo im Gedächtnis geblieben. Dass ich mir jetzt sein Buch gekauft habe, hatte einen konkreten Auslöser, der im vergangenen Juni einige Tage lang die italienischen Nachrichten mitprägte: der Tod von Satnam Singh, einem indischen Erntearbeiter, das italienische Wort ist „bracciante“, welches sowohl mit „Tagelöhner“, als auch mit „Erntehelfer“ bzw. „Hilfsarbeiter“ übersetzt werden kann. Satnam Singh war bei einem tragischen Arbeitsunfall mit einer Maschine (wohl zum Einpacken von Gemüse in Plastik) der rechte Arm abgetrennt worden. Sein Arbeitgeber packte den Verunfallten ins Auto, den abgetrennten Arm in eine Plastikkiste, in welche sonst Gemüse hineinkommt, und fuhr den armen Mann und seinen Arm – nein, nicht ins Krankenhaus, sondern nach Hause. Wo er sowohl dem Verunfallten als auch dessen Ehefrau die Handys abnahm, damit sie den Unfall nicht melden könnten. Jemand aus der Nachbarschaft verständigte aber dann den Rettungsdienst, Satnam Singh wurde mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus nach Rom geflogen und starb dort 36 Stunden später, er hatte zu viel Blut verloren gehabt.

Beim Lesen des Buches von Marco Omizzolo wird deutlich, dass Satnam Singh kein Einzelfall ist. Die Erntearbeiter, sehr viele aus Indien (vor allem Punjab), aber auch aus Osteuropa, werden ausgebeutet: Zwölf Stunden Arbeit am Tag bei vier Euro Stundenlohn sind keine Seltenheit, und nicht immer wird dieser Lohn ausbezahlt. Natürlich arbeiten viele schwarz, ohne Vertrag. Leider spielen indische Landsleute oft keine gute Rolle, schon bei der Anwerbung möglicher Arbeitskräfte in Indien, aber auch konkret vor Ort, wo sie als „Vorarbeiter“ zur Ausnutzung anderer beitragen.

Das „Agro-Business“ selbst setzt derweil Milliarden um, Obst und Gemüse werden auch in Länder nördlich von Italien exportiert.

Vor dem Hintergrund solcher Geschichten – und im Omizzolo-Buch finden sich weitere dramatische und erschreckende – wirken manche Migrations-Diskussionen absurd und surreal. Mancher Erntearbeiter wäre tatsächlich besser daran (gewesen), wenn ihm die Einreise unmöglich gemacht worden wäre. Nie hätte er erleben und erleiden müssen, auf solche Weise ausgenutzt und auch misshandelt zu werden. Ohne irgendwie vereinfach zu wollen: stecken nicht hinter dem Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen von Fluchtursachen und -bedingungen und der Behandlung von Menschen als „Arbeitssklaven“ ähnliche Muster? Was, wer zählt?