Es war ein ganz besonderer Moment. In meinem Sprachgebrauch würde ich sagen: ein „heiliger“. Andere würden vielleicht von „Gänsehautfeeling“ reden…
Seit einigen Monaten sind wir zusammen im Sprachkurs, eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von 10 – 15 Menschen. Es gab Zu- und Abgänge. Die meisten von uns sind berufstätig und der Kurs findet an zwei Vormittagen statt, montags und mittwochs, jeweils von 10.30 bis 12.00 Uhr, nie sind alle da.
Einige haben sich jetzt zum Examen (B1) angemeldet und wir bereiten uns gemeinsam darauf vor. Dabei entwickeln sich Dynamiken wie unter jüngeren Schülerinnen und Schülern: auf WhatsApp werden Tipps ausgetauscht und über Prüfungsangst berichtet, bzw. wird einander Mut gemacht.
Weil im mündlichen Teil der Prüfung vermutlich eine Selbstvorstellung gefragt sein wird, haben wir das beim letzten Mal „geübt“. Jede – hier passt die weibliche Form, weil ich neben fünf Frauen der einzige Mann bin – hat sich selbst vorgestellt. Um uns auch hier Mut zu machen bzw. ein Beispiel zu geben, haben unsere Lehrer Federica und Ugo begonnen. Und dann wir.
Ljuba aus Moldawien und Ana aus Ecuador erzählen von ihrem schwierigen Anfang vor vielen Jahren hier in Italien. Noch deutlicher als Ljuba macht Ana deutlich, dass die Situation in ihrem Heimatland so schwierig war, dass sie sich entschloss, dieses zu verlassen. Beide waren anfangs auch auf die Unterstützung durch die Caritas angewiesen und sind bis heute dankbar dafür. „Ich habe mich über die gute Qualität des Essens dort gewundert“, sagt die eine. Und die andere: „nur mit dem Salat tat ich mich schwer. Bei uns zu Hause wird nicht so viel Salat gegessen. Ich bin doch keine Ziege! Aber inzwischen bin ich eine leidenschaftliche Salatesserin geworden!“. Beiden, jede hat zwei Kinder, ist ihre Familie sehr wichtig. Während Ljuba darunter litt, dass ihre berufstätigen Eltern wenig Zeit für sie hatten, starb die Mutter Anas bei ihrer Geburt. Was Ana selbst an mütterlicher Zuneigung vermisst hatte, das wollte und will sie ihren eigenen Kindern geben.
Die Polin Ewelyna ist ihrem italienischen Freund gefolgt. Und hat dafür Heimat, Familie und Freunde zurückgelassen – all das vermisst sie. Als Anwältin bearbeitet sie im Homeoffice Rechtsangelegenheiten.
Auch die Brasilianerin Fabrizia ist Anwältin. Ihre Großeltern waren Italiener, so dass sie auch die italienische Staatsangehörigkeit erworben hat. Fabrizia hat in ihrer Heimat viel gearbeitet. Und während der Pandemie dann vorwiegend von zu Hause aus: irgendwann hat sie ein Burnout bekommen und sich entschieden, etwas anderes zu machen. So kam sie nach Italien, hat inzwischen an einer römischen Uni einen Master in europäischem Recht erworben und vertieft ihre Italienisch-Kenntnisse. Wobei auch sie ihre Familie und ihren Bekanntenkreis in Brasilien hat. Sie klagt über das gefährliche Leben in Sao Paulo: „die töten dich für ein Handy“. Wenn sie zurück geht, dann möchte sie eher aus der Stadt heraus ins Landesinnere.
Auch die Mexikanerin Lorena bestätigt das gefährliche Leben, gerade als Frau, aus ihrer Sicht und aus der Perspektive ihrer Heimat. Ihr Mann Chris unterrichtet an einer amerikanischen Schule in Rom, mit ihm zusammen ist sie hierhergekommen. Kennen gelernt haben sich die beiden in Panama. Ohne dass sie es sagt, habe ich den Eindruck, dass es einen gewissen Zwiespalt für Lorena gibt: sie genießt das Leben in Italien, z.B. die größere Sicherheit. Und doch fehlt ihr die Heimat.
Mit Interesse hören die anderen zu, als ich von meinen Besuchen bei Migranten ohne Papiere im Abschiebehaftgefängnis von Madrid erzähle.
Berührt, dankbar und nachdenklich gehe ich an diesem Tag nach dem Unterricht nach Hause: welcher Reichtum an Leben, welche Vielfalt, wie viele Erfahrungen. Welches Geschenk, sich das mitzuteilen.
Wie meinte Ugo, unser Lehrer: „das war heute unsere bisher schönste Unterrichtsstunde“.
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