Auf der Kanzel steht – nicht ein Prediger. Dafür war die Kanzel ursprünglich einmal geschaffen worden, in einer Zeit ohne elektrotechnische Mittel, Mikrofone und Lautsprecher zur Stimmverstärkung. Eine Kanzel, etwas erhöht im Kirchenschiff über den Bänken, mit Schalldeckel, damit das Wort bei den Zuhörenden in der Kirche ankommen konnte. Nein, auf der Kanzel steht eine junge Frau in Jeans und T – Shirt. Nicht um zu predigen, nein, soweit sind wir noch nicht. Sie steht dort neben einer Kamera auf einem dreibeinigen Stativ. Klar, von da oben hat sie eine gute Perspektive und kann das Geschehen sicher ausgezeichnet filmen.
Es ist ein Tag Ende August in einer österreichischen Basilika. Ein großes Fest für den dort ansässigen Orden. Zwei junge Männer legen ihre ewige Profess ab, erklären ihre Bereitschaft, ihr Leben lang in dieser Ordensgemeinschaft mit zu leben.
Und ich mache mir Gedanken, ob das, was ich auf der Kanzel sehe, ein Bild gewordener Ausdruck dafür ist, was manche theoretisch, philosophisch unter „iconic turn“ abhandeln. Dass unsere Kultur sich von einer Kultur des Wortes zu einer Kultur des Bildes gewandelt hat.
Die junge Dame auf der Kanzel ist ja nicht die einzige, welche das Geschehen ins Bild bannt. Da sind noch ein paar Leute mit kleineren und größeren Fotoapparaten, zwischendurch hält auch die eine oder der andere sein Handy mit Kamerafunktion in die Höhe und zoomt sich ans Geschehen, drückt den Auslöser oder lässt es bleiben. Ganz zu schweigen vom Kameramann des Regionalfernsehens, der irgendwann während der Feier mit seinem Riesen-Instrument nach vorne schreitet, um für die Zuschauer der lokalen Abendnachrichten ein paar Bilder einzufangen...
Wer mag sich all die vielen Bilder, die während der knapp zweistündigen Feier gemacht werden, hinterher ansehen?
Aus der Zeit, in der die Urlaubsfotos noch als Diapositive gemacht wurden, erinnere ich mich an die Formulierung vom „Racheabend“. Das Ehepaar Meier lädt das Ehepaar Müller ein, gemeinsam die Urlaubsfotos (eben als Dias auf der Leinwand) anzusehen: „Elsa am Strand, Elsa vor dem großen Eis im Cafe“ usw. Und das Ehepaar Müller lädt einige Wochen später seinerseits – deswegen „Racheabend“ - die Meiers zum Betrachten seiner Urlaubfotos: „Sonja neben dem Gipfelkreuz, Sonja neben der Kuhherde...“.
Klar ist das praktisch mit den digitalen Speichermedien: das nicht gut gelungene Foto wird einfach gelöscht und das nächste gemacht. Und manche Großeltern bitten darum, hin und wieder ein Bild ihrer Enkel ausgedruckt zu bekommen, die Eltern archivieren ja nur noch digital.
Wie prägt all das unsere Art, uns zu erinnern? Geht etwa die Qualität der leicht löschbaren Erinnerungsbilder auch auf die Erinnerung an sich über? Dass wir – ich hoffe, jetzt nicht zu kulturpessimistisch zu sein – auch Erinnerungseindrücke ganz allgemein leichter „löschen“?
Wie prägen sich Bilder im Vergleich zu Worten ein? Manche ändern ihr Profilbild auf Facebook auch alle paar Monate...
Auf jeden Fall hat es diese Kultur auch mit der „Ästhetisierung der Lebenswelten“ zu tun, lässt bisweilen das „De-sign“ wichtiger als das „Sein“ er-scheinen. Neill Postman und andere lassen grüßen...
Als ich vor kurzem vor einer mehrtägigen Urlaubswanderung den Fotoapparat vergessen hatte, musste ich schmunzeln. Abgesehen davon, dass meine billige Digicam für Landschaftsaufnahmen sowieso eher ungeeignet ist, da ist nämlich kaum mehr etwas zu erkennen, abgesehen davon fühlte ich die Freiheit, los gehen und genießen zu können, ohne mich nach Fotomotiven umsehen zu müssen. Und ohne später „Opfer“ suchen zu müssen, welche sich die Fotos ansehen und vielleicht sogar noch (bitte positiv!) kommentieren.
So suche ich meine „Opfer“ weiter unter denen, die sich wie Sie oder Du gerade diesem geschriebenen Wort zu wenden. Und hoffe, niemand von der fotografierenden Zunft zu nahe getreten zu sein...