Freitag, 15. November 2024

Schmerzhaft-heilsame Erfahrungen im ÖPNV

Mit dem Nahverkehrszug fahre ich nach einem Besuch im Vatikan nach Hause zurück – von der Stazione S. Pietro zur Stazione Ostiense. Weil ich dienstlich dort war, habe ich ein Priesterhemd mit weißem Kragen an. Unterwegs geht ein junger, etwas verwahrlost aussehender Mann durch den Waggon und bettelt die Fahrgäste an: „Ich lebe auf der Straße, könnt Ihr mir helfen? Wenigstens 20 Cent?“ Ich lächle ihn an, Papst Franziskus sagt: „nicht wegschauen!“ – und gebe ihm nichts. Eine junge Frau mir gegenüber sagt dem jungen Bettler: „warte, ich schaue, ob ich etwas einstecken habe“ und gibt ihm dann ein paar Münzen. Ein junger Mann mit langen Haaren neben mir greift tief in seine Hosentasche und lässt ebenfalls ein paar Münzen in die Hand des Bettelnden fallen. Und ich fühle mich beschämt! Erstens weil die jungen Leute neben mir positiv auf die Bitte des Bettelnden reagiert haben, im Gegensatz zu mir. Und zweitens, weil ich mich frage, was diese sich wohl über mich „Schwarzhemd“ denken. Verpasste Chance! Den ganzen Tag über geht mir diese Szene nach und mir kommt sie wie ein Beispiel für die wiederholt gelesene These vor, dass wir uns in der Kirche „evangelisieren lassen müssen“, eben auch von „außerhalb der Kirche“.

An diesem Tag ist mir von unbekannten Menschen evangeliumsgemäßes Leben bezeugt worden und ich kann und will das anerkennend und beschämt eingestehen. In die Beschämung hinein mischt sich mit der Zeit auch Dankbarkeit für die Lektion.

Vier Tage später bin ich wieder unterwegs, diesmal mit der U-Bahn. Ich möchte außerhalb Roms wandern gehen. An der Stazione Termini steigen viele Menschen zu, alle kommen gar nicht mehr in den Waggon hinein. Umfallen kann keine/r mehr, wir stehen, wie Sardinen in der Dose liegen. Bei der nächsten Station steigen ein paar Leute aus, ein paar zu, es wird etwas lockerer, und ich bemerke, dass mein Geldbeutel weg ist. Ich hatte ihn extra nicht in der Gesäßtasche, sondern in einer Tasche vorn auf der Hose auf Höhe Oberschenkel, mit Reißverschluss verschlossen. Weg! Frust, Rat- und Hilflosigkeit. Spontan steige ich aus, vielleicht sehe ich ja jemanden davonspringen. Unmöglich in der Menschenmenge. Also verlasse ich die U-Bahn-Unterwelt und fahre mit den Rolltreppen nach oben, ziemlich verstört. Was tue ich denn jetzt? Ich mache mich zu Fuß auf den Heimweg und begegne einem Polizisten, dem ich die Situation schildere und der mir sagt, ich solle bzw. müsse eine Anzeige erstatten. Und er zeigt mir auch die naheliegende Questura, bei der das möglich ist. Wenn – der zuständige Inspektor eintrifft, der ist nämlich um 8.15 Uhr noch nicht im Büro.

Ein Uniformierter weist mir vor dem Gebäude im Freien einen Platz zum Warten zu, ich sehe Menschen mit und ohne Uniform ins Gebäude hinein und wieder hinaus gehen und nutze die Zeit, meine Bankkarte zu sperren. Um ca. 8.40 Uhr werde ich ins Gebäude hineingewinkt und gehe ins Büro des Inspektors. Zwei Männer sitzen dort, einer in Uniform, einer in Zivil, denen ich mein Problem schildere. „Haben Sie denn irgendein Dokument?“ fragt mich der eine. Welche Frage! „Nein – die sind alle im Geldbeutel!“ „Okay, dann schreiben Sie Ihren Namen, Geburtsort und –Datum auf dieses Blatt“. Während ich damit beschäftigt bin, klingelt mein Handy. Der Empfang ist schlecht. Aber ich verstehe, dass da jemand dran ist, der meinen Geldbeutel gefunden hat. Die Verbindung wird unterbrochen, der Anrufer versucht es erneut und ich bekomme mit, wie er zu einer Kirche geht, dort mit jemandem spricht, dem er dann sein Handy überlässt, damit der mir erklären kann, wo ich meinen Geldbeutel abholen kann. Das Ganze wirkt auf mich etwas rätselhaft, aber die Polizisten raten mir, dorthin zu gehen und das mit der Anzeige zunächst einmal sein zu lassen. Also gehe ich zu Fuß nach Hause, ich habe ja kein Geld und keine Fahrkarten mehr, hole mir eine Fahrkarte und fahre zur angegebenen Adresse. Ich muss etwas suchen, finde aber dann die Kirche und das Pfarrbüro und bekomme tatsächlich meinen Geldbeutel. Die € 45.- Bargeld fehlen, aber alle Karten (Bank, Ausweis, Krankenkasse, Führersein etc.) sind da. Später telefoniere ich mit dem Finder, dem ich etwas geben möchte. Er lehnt ab: „das müsste doch für jede und jeden selbstverständlich sein!“. In der U-Bahn sah er meinen Geldbeutel liegen und nachdem er offensichtlich keinem der Fahrgäste gehörte, nahm er ihn und bekam irgendwie meine Telefonnummer heraus. Als ich mit dem Geldbeutel zurückkehrte, hatte ich das Bedürfnis nach einer Dusche, nicht nur weil ich von den morgendlichen Wegen schweißgebadet war, sondern irgendwie auch als „Reinigung“ nach dieser Erfahrung…

Donnerstag, 31. Oktober 2024

Herz ist Trumpf

Unter den Neuerscheinungen auf dem religiösen Buchmarkt in der letzten Zeit fielen mir zwei Titel auf: „Herzensbildung“ von Klaus Mertes, dem leidenschaftlichen Pädagogen. Untertitel: „Für eine Kultur der Menschlichkeit“. (Eine Rezension zum Buch z.B. hier: https://sinnundgesellschaft.de/herzensbildung/). Und kurz darauf „Herzschlag“ des Hildesheimer Bischofs (und Herz-Jesu-Priesters) Heiner Wilmer. Untertitel: „Etty Hillesum – eine Begegnung“. (Auch hierzu ein Tipp: https://www.herder.de/communio/spiritualitaet/bischof-heiner-wilmer-begegnet-der-in-auschwitz-ermordeten-tagebuchschreiberin-etty-hillesum-herzschlag/). Beide Bücher sind bei Herzer, pardon Herder, erschienen. Schon die Tagebücher Etty Hillesums, mit der Heiner Wilmer gleichsam ins Gespräch tritt, tragen den Titel „Das denkende Herz (der Baracke)“.

Die beiden Bücher schienen mir beinahe wie eine Vorbereitung eines anderen „Herzenstextes“. Bereits im Juni vergangenen Jahres hatte Papst Franziskus seine Enzyklika zur Herz-Jesu-Verehrung angekündigt und am 24. Oktober wurde sie nun veröffentlicht. Ein erstes Mal habe ich sie gelesen, und sie scheint mir zu dicht und tief, um schnell, jetzt gleich, auf der Stelle, einen Kommentar abzugeben. Ich möchte den Text zur (langsamen) Lektüre, zur Meditation empfehlen. Mit ein wenig heimlicher Freude habe ich mich daran erinnert, dass uns während des Studiums der damalige Assistent im Fachbereich Altes Testament an der Uni Salzburg, Prof. Dr. Friedrich Vinzenz Reiterer, darauf hingewiesen hat, dass die liturgischen Texte am Herz-Jesu-Fest eigentlich Kostbar-Blut-Texte seien. Immerhin zitiert Papst Franziskus in seiner Enzyklika den spanischen Theologen Olegario González de Cardedal (Nr, 63), der „die Spiritualität des kostbaren Blutes, die Verehrung des Herzens Jesu, die eucharistischen Frömmigkeitsformen“ in dieser Reihenfolge nacheinander nennt. Wobei das nicht das Wichtigste ist!

Beim Lesen und Nachdenken erinnerte ich mich noch an zwei andere „Herz-Bücher“, die ich mit Gewinn gelesen habe und weiterempfehlen kann. Das eine stammt vom Geigenbauer Martin Schleske, „Herztöne“. Mit dem Untertitel: „Lauschen auf den Klang des Lebens“. (Martin Schleskes erstes Buch „Der Klang – vom unerhörten Sinn des Lebens“ hat 12 Auflagen und 100.000 Exemplare erreicht und ist in mehrere Sprachen übersetzt worden).

Und schließlich: „Dein Herz an Gottes Ohr. Einübung ins Gebet“, eine wunderbare Gebetsschule des früheren Aachener Bischofs Klaus Hemmerle.

„Der Mensch von heute ist oft zerstreut, gespalten, fast ohne ein inneres Prinzip, das in seinem Denken und Handeln Einheit und Harmonie schafft. Vielverbreitete Verhaltensmodelle verschärfen die technologisch-rationelle oder, umgekehrt, triebmäßige Dimension«, zitiert Franziskus in seiner Enzyklika (Nr. 9) seinen Vorgänger Johannes Paul II und fährt fort: „Es fehlt das Herz.“ Hier fiel mir ein, dass ich einmal gehört habe, Martin Buber habe das „mit ganzem Herzen“ in Dtn 6,5 mit „mit geeintem Herzen“ übersetzt. Eben: nicht zerrissen, zerstreut…

„Es fehlt das Herz“. Ich meine, diese Diagnose stimmt und ist bedenkenswert. Beim Blick in die täglichen Nachrichten erschüttert außer der ganz offensichtlichen Grausamkeit an vielen Orten dieser Erde der Widerspruch zwischen einer technisch hoch entwickelten Menschheit einerseits und dem nicht gelingenden Zusammenleben auf so vielen Ebenen auf der anderen Seite. Papst Franziskus legt eine für viele vermutlich unerwartete Hilfestellung vor.

Ich wünsche uns „ein hörendes Herz“, worum der junge König Salomo Gott bittet (1 Kön 3,9), um gut unterscheiden zu können.