Es ist kurz nach 21.00 Uhr. Wir sind
auf der Rückfahrt von einer Veranstaltung des Palliativ-Netzes. Ein
Auto kommt uns entgegen, bei dem einer der beiden Scheinwerfer kaum
leuchtet, der andere dagegen blendet. „Ganz schön leichtfertig, so
durch die Gegend zu fahren!“ denke ich, leicht verärgert, „eine
Zumutung für die anderen Verkehrsteilnehmer!“ Luise am Steuer
sagt: „mit solch einem Licht fahren zu müssen ist schon
unangenehm. Wenn eines nicht funktioniert, dann fährt man mit
Fernlicht, um etwas auszugleichen. Und wenn dann Gegenverkehr kommt,
dann sollte man abblenden und sieht kaum mehr etwas“.
Nach der wertvollen Veranstaltung, von
der wir gerade kommen, habe ich noch etwas gelernt! Während ich aus
meiner Position heraus wenig freundlich über den anderen Autofahrer
gedacht hatte, hat sich Luise in ihn und seine Lage hinein versetzt
und Verständnis gezeigt.
Was mich an die indianische Weisheit
erinnert: „Bevor du über einen Menschen urteilst, musst du
mindestens 3 Monde in dessen Mokassins gehen!“ Vielleicht müsste
ich sie mir die Spruchkarte mit diesem Text wieder einmal auf den
Schreibtisch stellen...
Und eine weitere Erinnerung kommt noch.
Als ich mich beim Centro Astalli in Rom auf die Arbeit mit
Flüchtlingen vorbereitete, bekam ich von einem Aufsatzwettbewerb
dieser Einrichtung mit. Um Schülerinnen und Schüler für die
Thematik „Flucht und Migration“ zu sensibilisieren, schrieb das
Centro Astalli diesen Wettbewerb aus unter dem Titel „nei panni dei
rifiugiati“, wörtlich: „in den Kleidern der Flüchtlinge“,
deutsch würden wir vielleicht formulieren: „in der Haut eines
Flüchtlings stecken“. Ich war damals bei der Preisverleihung des
Wettbewerbs dabei und staunte über die entstandenen Texte.
Inzwischen gibt es eine Arbeitshilfe des Centro Astalli, welche zum
Beispiel im Schulunterricht eingesetzt werden kann, unter dem selben
Titel: „nei panni dei rifiugiati“.
Einen etwas anderen Zugang wählt der
Freud-Schüler Bruno Bettelheim: „Wenn Sie jemand etwas Abseitiges,
etwas Untragbares tun sehen, sagen Sie sich, dass dieser Mensch
wahrscheinlich die beste Lösung gewählt hat, damit er nicht leiden
muss“. Auch hier geht es darum, sich in die Haut des anderen hinein
zu versetzen. (Ich gebe offen zu, dass ich kein
„Bettelheim-Spezialist“ bin, sondern das Zitat gefunden habe. In
einem sehr lesenswerten Buch, „Aufbruch zum Miteinander“, ein
Interview von Dennis Gira mit Bischof Albert Rouet von Poitiers).
Und da war doch noch... Richtig! Hin
und wieder lese ich auch bei meinem Ordensgründer nach. Der schrieb
einmal: „Halten Sie sich nur zwei Dinge vor Augen, die Sie im Lauf
der Jahre besser verstehen werden: Zum einen, dass Sie mit Ihrem
Nächsten Mitgefühl haben müssen und dass nur Gott ohne Fehler ist;
zum anderen, dass das Leiden nie fehlen wird“.
Was mir hierbei gefällt ist einerseits
der Realismus: „dass das Leiden nie fehlen wird“, dieser aber
gepaart mit der Andeutung von Veränderungspotential: „die Sie im
Lauf der Jahre besser verstehen werden“.
Es besteht die Hoffnung, dass ich bei
der nächsten Autofahrt reagiere wie Luise, mit Verständnis oder gar
Barmherzigkeit. Inzwischen höre ich nicht auf, mich an den zu
wenden, der immer neu barmherzig mit mir umgeht. Es färbt
hoffentlich mit der Zeit etwas von ihm auf mich ab...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen