Freitag, 15. Februar 2013

in anderen Mokassins...

Es ist kurz nach 21.00 Uhr. Wir sind auf der Rückfahrt von einer Veranstaltung des Palliativ-Netzes. Ein Auto kommt uns entgegen, bei dem einer der beiden Scheinwerfer kaum leuchtet, der andere dagegen blendet. „Ganz schön leichtfertig, so durch die Gegend zu fahren!“ denke ich, leicht verärgert, „eine Zumutung für die anderen Verkehrsteilnehmer!“ Luise am Steuer sagt: „mit solch einem Licht fahren zu müssen ist schon unangenehm. Wenn eines nicht funktioniert, dann fährt man mit Fernlicht, um etwas auszugleichen. Und wenn dann Gegenverkehr kommt, dann sollte man abblenden und sieht kaum mehr etwas“.
Nach der wertvollen Veranstaltung, von der wir gerade kommen, habe ich noch etwas gelernt! Während ich aus meiner Position heraus wenig freundlich über den anderen Autofahrer gedacht hatte, hat sich Luise in ihn und seine Lage hinein versetzt und Verständnis gezeigt.

Was mich an die indianische Weisheit erinnert: „Bevor du über einen Menschen urteilst, musst du mindestens 3 Monde in dessen Mokassins gehen!“ Vielleicht müsste ich sie mir die Spruchkarte mit diesem Text wieder einmal auf den Schreibtisch stellen...

Und eine weitere Erinnerung kommt noch. Als ich mich beim Centro Astalli in Rom auf die Arbeit mit Flüchtlingen vorbereitete, bekam ich von einem Aufsatzwettbewerb dieser Einrichtung mit. Um Schülerinnen und Schüler für die Thematik „Flucht und Migration“ zu sensibilisieren, schrieb das Centro Astalli diesen Wettbewerb aus unter dem Titel „nei panni dei rifiugiati“, wörtlich: „in den Kleidern der Flüchtlinge“, deutsch würden wir vielleicht formulieren: „in der Haut eines Flüchtlings stecken“. Ich war damals bei der Preisverleihung des Wettbewerbs dabei und staunte über die entstandenen Texte. Inzwischen gibt es eine Arbeitshilfe des Centro Astalli, welche zum Beispiel im Schulunterricht eingesetzt werden kann, unter dem selben Titel: „nei panni dei rifiugiati“.

Einen etwas anderen Zugang wählt der Freud-Schüler Bruno Bettelheim: „Wenn Sie jemand etwas Abseitiges, etwas Untragbares tun sehen, sagen Sie sich, dass dieser Mensch wahrscheinlich die beste Lösung gewählt hat, damit er nicht leiden muss“. Auch hier geht es darum, sich in die Haut des anderen hinein zu versetzen. (Ich gebe offen zu, dass ich kein „Bettelheim-Spezialist“ bin, sondern das Zitat gefunden habe. In einem sehr lesenswerten Buch, „Aufbruch zum Miteinander“, ein Interview von Dennis Gira mit Bischof Albert Rouet von Poitiers).

Und da war doch noch... Richtig! Hin und wieder lese ich auch bei meinem Ordensgründer nach. Der schrieb einmal: „Halten Sie sich nur zwei Dinge vor Augen, die Sie im Lauf der Jahre besser verstehen werden: Zum einen, dass Sie mit Ihrem Nächsten Mitgefühl haben müssen und dass nur Gott ohne Fehler ist; zum anderen, dass das Leiden nie fehlen wird“.
Was mir hierbei gefällt ist einerseits der Realismus: „dass das Leiden nie fehlen wird“, dieser aber gepaart mit der Andeutung von Veränderungspotential: „die Sie im Lauf der Jahre besser verstehen werden“.

Es besteht die Hoffnung, dass ich bei der nächsten Autofahrt reagiere wie Luise, mit Verständnis oder gar Barmherzigkeit. Inzwischen höre ich nicht auf, mich an den zu wenden, der immer neu barmherzig mit mir umgeht. Es färbt hoffentlich mit der Zeit etwas von ihm auf mich ab...



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