Mittwoch, 18. Juli 2012

Hauptbahnhof Lindau


Wir fahren mit dem Zug in den Hauptbahnhof Lindau ein. Wieder einmal genieße ich den Blick auf den Bodensee links und rechts und hoffe insgeheim, dass der Bahnhof vielleicht doch nicht auf das Festland verlegt wird – es ist einfach zu schön, auf die Insel im Bodensee zu fahren – Zeitersparnis hin oder her.

An diesem Tag beschäftigen mich aber noch andere Gedanken. Die Umsteigezeit in Lindau beträgt vier Minuten, ich muss den Anschluss Richtung Feldkirch erwischen. Und unser Zug hat vier Minuten Verspätung. Wie soll das gehen? Ich bin gespannt. Sicherheitshalber gehe ich im Zug ganz nach vorne. Und sehe, auf Gleis 8 einfahrend, dass der Zug Richtung Feldkirch auf Gleis 1 noch da steht. Vielleicht wartet er.

Vor mir stehen drei Frauen. Eine Dame in roter Bluse bittet die hinter ihr stehenden Frauen, der Sprache nach Schweizerinnen, ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Der Tonfall, mit welchem sie das tut, lässt keinen Widerspruch zu. Sie hat ein Gefährt, wie es manche zum Einkaufen verwenden, eine große Tasche auf Rädern zum Ziehen bzw. Schieben, und das sei recht schwer. Ich werde nicht angefragt, vermutlich weil ich selbst so bepackt bin, den Rucksack auf dem Rücken und beide Hände voll. Die jüngere der beiden angefragten Frauen erklärt sich bereit, der Dame in roter Bluse ihren Einkaufswagen beim Aussteigen nach zu reichen. Der Zug hält, wir steigen aus und bewegen uns schnell gehend oder gar laufend zum anderen Bahnsteig.

Plötzlich höre ich einen Knall und sehe die ältere Schweizerin auf dem Boden liegen. Einen Moment bleibe ich stehen, bzw. bewege mich auf sie zu. Dieser Moment reicht, um zu sehen, wie sie sich aufrichtet und etwas gequält zu der Dame in roter Bluse sagt: „Sie sind plötzlich vor mir abgebogen“. Ein Koffergriff scheint gebrochen und ich sehe, wie eine weitere Frau zu Hilfe kommt. Auch die andere Schweizerin, die schon voraus geeilt war, kehrt zurück zur am Boden Liegenden. So dass ich weiter laufe und meinen Anschlusszug erreiche.

Die Freude, meinen Zug erreicht zu haben, wird weniger dadurch getrübt, dass ich die Dame in roter Bluse auch dort sehe. „So eine unmögliche Person!“ Nein, es ist etwas anderes, das mir zu schaffen macht. Mir kommt die Stelle „er sah ihn und ging weiter“ aus der Geschichte mit dem barmherzigen Samariter in Erinnerung (Lk 10,29-37). Klar ist am Lindauer Hauptbahnhof vermutlich mehr los und eher Hilfe zu erwarten als damals auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. Und ich habe ja aus dem Augenwinkel heraus noch die zu Hilfe eilende Person wahr genommen. Und trotzdem: „er sah ihn/sie und ging weiter!“

Selbst wenn ich eine Stunde auf den nächsten Zug hätte warten müssen: ich hätte es wohl noch nach Hause geschafft. So habe ich nicht den Zug verpasst, aber eine Gelegenheit, Nächster zu sein.
Mein Verhalten, das Versäumnis, möchte ich nicht herunter spielen oder überspielen und auch nicht funktionalisieren. Doch in den kommenden Tagen merke ich, wie es mir immer dann in den Sinn kommt, wenn ich anfange, mich über einen anderen aufzuregen oder zu ärgern. „Und Du?“ höre ich eine leise Stimme in mir und denke an die Szene am Lindauer Bahnhof.