Mit dem Regionalexpress war ich unterwegs nach München. In Bad Endorf stieg eine junge Familie zu, Frau, Mann und Kind. Und sie mussten sich beeilen beim Einsteigen, denn sie waren mit den Fahrrädern unterwegs und für das noch kleine Kind hatten sie einen Fahrradanhänger, der auch in den Zug musste.
Nachdem sie es geschafft hatten, setzten sie sich mir gegenüber und der Kleine fing sofort an, sich für seine Umgebung zu interessieren. „Eise“ sagte er und die Mutter erklärte ich, dass das „Eisenbahn“ bedeute. „Bagge“ (für Bagger) und „Raan“ (für „Kran“) waren weitere Gegenstände, die er, aus dem Fenster hinaus sehend kommentierte.
Über das Nachfragen zweier älterer Damen, die auch da saßen, bekam ich mit, dass der Kleine Theo heißt und anderthalb Jahre alt ist. Er hatte eine braune Cordhose an, ein helles T-Shirt mit der Aufschrift „je vais a la campagne“ und Sandalen mit Klettverschluss an den Füßen. Mit denen stieß er bei seinen Kletterübungen vom Boden auf die Sitzbank hin und wieder an meinen Knien an.
Irgendwann holte die Mutter einen Apfel aus dem Gepäck, biss hinein und ließ dann den Kleinen beißen – so hatte er nicht mit der harten Schale zu kämpfen. Später bekam Theo noch zu trinken und schließlich zauberten die Eltern ein Pixi – Buch (kennen Sie: klein, quadratisch, wenige Seiten, viele Bilder, wenig Text) hervor. Titel „Der Lokomotivführer“.
Eine Zeit lang beschäftigte sich der Kleine mit dem Büchlein, blätterte um und sah sich die Bilder an. Dann hielt er mir das Büchlein hin, Freude strahlend. Ich nahm es zunächst einmal an. Weil Theo nicht zu mir kam, war es wohl keine Einladung, mit ihm gemeinsam das Büchlein anzuschauen. Ob er es mir deswegen gegeben hatte, weil ich langweiliger Mann die ganze Zeit am Lesen meines Buches war? Das heißt, eben nicht die ganze Zeit, weil ja auch Theo meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber natürlich hatte ich immer mein Buch in der Hand. Vielleicht wollte er aber auch einfach etwas geben, teilen. Natürlich gab ich Theo sein Büchlein wieder zurück und er nahm es auch gerne wieder.
In München traf ich mich mit Bekannten und genoss abends noch ein Orgelkonzert im Münchner Dom. An der Orgel war Theo. Nicht der Kleine aus dem Zug, sondern einer Jahrgang 1955, P. Theo Flury OSB, der Stiftsorganist der Abtei Einsiedeln in der Schweiz. Er spielte Werke von Franz Liszt (klar, Jubiläumsjahr, 200. Geburtstag), Marcel Dupry und Eigenkompositionen. Voller Orgelklang erfüllte den für das Konzert recht gut besuchten Münchner Dom.
Nach dem letzten Stück setzte lang anhaltender Applaus ein. Mehrmals kam P. Theo vom Spieltisch nach vorne an die Brüstung der Empore und lächelte den applaudierenden Zuhörerinnen und Zuhörern von oben entgegen. Beim zweiten oder dritten Mal dieses von hinten nach vorne Kommens breitete er die Arme aus und führte sie in einer sanften Bewegung nach oben. Und das hatte nichts Hoheits- oder Huldvolles, Gönnerhaftes, sondern schien mir eher sein Versuch, den Applaus „umzuleiten“, Richtung oben eben.
Theo Flury hatte gegeben, uns an seiner Kunst teilhaben lassen. Und was wir ihm gaben, den Applaus, hat er gleichsam nach oben weiter gegeben.
So ähnlich wie der kleine Theo im Zug und ich uns ein Büchlein hin und her gegeben hatten.
Geben, leben Sie schon?
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