Sonntag, 31. August 2025

Merlini und Marini

Giovanni Merlini führte einen Interessenten an der Gemeinschaft der Missionare vom Kostbaren Blut zu seinem Zimmer im Missionshaus von Albano. (Nebenbei: das Gebäude von damals wurde gegen Ende des zweiten Weltkrieges von amerikanischen Streitkräften bombardiert, welche Italien von den Deutschen befreien wollten. Nach dem Krieg wurde ein neues, großes Haus errichtet). Im Stiegenhaus blieb Merlini vor einem Kreuz an der Wand stehen und verneigte sich. Der junge Interessent sagte ihm: „wer so etwas (wie dieses Kreuz) fabriziert, der gehört doch eingesperrt!“ Merlinis Antwort: „wenn derjenige es aber nicht besser gekonnt hat und es halt so gut als möglich gemacht hat?“ Wir wissen nicht, wie dieser Dialog weiter gegangen ist und was in Raffaele Marini, dem Interessenten vorgegangen sein mag, als er später erfuhr, dass sein Begleiter das Kreuz hergestellt hatte.

Für mich ist diese eine der schönsten Anekdoten aus dem Leben Merlinis, obwohl ich mich immer wieder frage, wie Raffaele Marini zu seinem Urteil gekommen sein mag. Denn jedes Mal, wenn ich einen Besuch in Albano mache und in dem kleinen Museum dort bin, fasziniert mich das Kreuz im Zentrum des Raumes. Es ist eines derer, die Merlini aus Pappmaché hergestellt hat und ich finde es höchst gelungen. Die Proportionen stimmen, es ist ausdrucksstark, es sieht fast wie geschnitzt aus. Das Besondere an diesem Kreuz: es ist „zusammenklappbar“. Also nicht nur die Kreuzesbalken, sondern auch der Corpus, die Arme des Gekreuzigten lassen sich zusammen legen und ließen sich ursprünglich einmal in eine Kiste packen, die zu den Volksmissionen mitgenommen wurde. Die Predigten während solcher Missionen fanden ja nicht immer in der Kirche, sondern manchmal auch unter freiem Himmel statt. Ein Podium bzw. eine Bühne wurde aufgebaut und darauf stellte sich der predigende Missionar, eben mit einem Kreuz bzw. unter dieses.

Das Geschehen der ersten Begegnung zwischen Merlini und Marini war jedoch kein Hindernis für die Aufnahme des letzteren als Laienbruder in die Gemeinschaft der Missionare vom Kostbaren Blut. Und tatsächlich wurde Marini ein enger Mitarbeiter Merlinis.

Denn Giovanni Merlini betätigte sich nicht nur als Bildhauer, sondern auch als Architekt von Kirchen und Missionshäusern, die zum Teil heute noch stehen. In diesem Bereich hatte offenbar der Analphabet Raffaele Marini einige Fähigkeiten und Merlini vertraute ihm die Durchführung bzw. Beaufsichtigung mancher Arbeit an. 

Ein sympathisches Detail dieser geteilten Arbeit zweier Missionare, welches wiederum für die Qualität der Beziehung spricht ist die folgende Geschichte. Der Bischof von Spoleto bat Merlini um den Bau einer Marienkirche in der Nähe des Missionshaues von San Felice di Giano, unserem Gründungshaus. Merlini wollte zuerst nicht und meinte, das könnten andere besser, aber der Bischof ließ nicht locker. So willigte Merlini schließlich ein, wodurch natürlich andere Arbeiten liegen blieben. Der Laienbruder wies ihn darauf hin: „was kümmern Sie sich um die Gebäude anderer, anstatt um diejenigen unserer Gemeinschaft!“ Merlini habe, so Marini, ihm entgegnet: „ich habe mich ja nicht nach diesem Auftrag gedrängt, aber die Madonna selbst hat bestimmt, dass diese Kirche gebaut werden soll“. 

Einer, der die von Merlini als Architekt betreuten Bauten untersucht hat, macht drei „Bauprinzipien“ dabei fest:

Die Funktionalität: die Zimmereinteilung etwa musste praktisch sein, den konkreten Bedürfnissen entsprechen.

Die Symmetrie: es ging um eine harmonische Zuordnung der einzelnen Teile

Die Sparsamkeit: da wurden etwa die billigeren quadratischen Fenster gegenüber denjenigen mit geschwungenen Bögen bevorzugt.

Freitag, 15. August 2025

Merlini und der Wucher

Es heißt, er habe in der Nacht gebetet und studiert. Beim täglichen Arbeitsprogramm von Giovanni Merlini (1705-1873) ist das kaum anders vorstellbar. Ohne Zweifel war diese Gestalt für die Entwicklung der Gemeinschaft der Missionare vom Kostbaren Blut von gar nicht zu überschätzender Bedeutung. An dieser Stelle soll es um ein Detail seines Wirkens gehen, welches gleichzeitig verschiedene Charakterzüge Merlinis sowie Dinge aus der Anfangszeit der Missionare vom Kostbaren Blut deutlich werden lässt. 

Die Missionare waren nicht nur zum persönlichen, sondern auch zum gemeinschaftlichen Studium angehalten. Schließlich ging es ja unter anderem um die „Erneuerung des Klerus“. Hierfür waren in den Missionshäusern Studienkonferenzen vorgesehen, bzw. von der ersten Regel ausdrücklich vorgeschrieben, bis hin zur Festlegung, an welchen Tagen Bibel, Dogmatik, Moral oder Liturgie thematisch behandelt werden sollten. Zur Teilnahme an diesen Studienkonferenzen konnten auch Priester von außerhalb eingeladen und zugelassen werden. Und – ebenso typisch für die Missionare – sie konnten auch ausfallen, wenn die Missionare für ihren apostolischen Dienst unterwegs und deswegen anderweitig beschäftigt waren. Obwohl sich Zeit, Gesellschaft und Kultur geändert haben, finde ich diesen Ansatz, sich miteinander dem ein oder anderen Thema (wissenschaftlich) zu widmen, reizvoll. 

Ein gewisser Marco Mastrofini (1768-1845), angesehener, wenn auch nicht unumstrittener Theologe in Rom, hatte ein Buch zur Thematik des Wuchers geschrieben, welches den Missionaren vom Kostbaren Blut offensichtlich aufgefallen, wenn nicht „aufgestoßen“ war. Der Gründer und Leiter der jungen Gemeinschaft, Gaspare del Bufalo, bat daraufhin seinen fähig(st)en Mitarbeiter Giovanni Merlini, eine Entgegnung zu schreiben. Und Merlini kam dieser Bitte – wohl in einigen Nachtschichten – nach. Auch dieses Detail finde ich bemerkenswert: da sucht nicht einer akademischen Ruhm, sondern Merlini entspricht einer Bitte seines Oberen. 

Wie geht er das Vorhaben an? Er nimmt das Buch Mastrofinis und fügt zu den einzelnen Abschnitten seine Bemerkungen und Kommentare in kursiver Schrift an. So wird das Buch dann auch gedruckt! Der Leser kann also den Gedankengang gut und genau nachvollziehen, er könnte Mastrofini „pur“ lesen, oder er setzt sich mit Merlinis Kritik auseinander. Welch ein Respekt vor dem anderen wird hier deutlich! Da arbeitet nicht jemand mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, sondern setzt sich wirklich mit dem Denken des anderen auseinander und lässt auch seine Leserschaft daran teilhaben. 

Ich gebe zu, dass ich erstens nicht das ganze Werk gelesen habe und zweitens auch in der Zusammenfassung nicht alles verstanden habe. Das mag sowohl an mangelnden Italienisch- als auch an unvollkommenen Kenntnissen der Moraltheologie liegen. 

Schmunzeln musste ich bei einem Detail, welches auch ein Licht auf das Ganze werfen mag. Mastrofini meint, wenn einer 100 Scudi (damalige Währung in Italien) raubt, dann muss er nach einem Jahr nicht nur die 100 Scudi zurückgeben, sondern auch eine Summe, die dem entspricht, was in einem Jahr mit 100 Scudi hätte erwirtschaftet werden können. Merlini hält dagegen und sagt, es seien nur die 100 Scudi zurückzugeben und eventuell natürlich der bei dem Einbruch entstandene Sachschaden wieder gut zu machen. Das, was eventuell hätte erwirtschaftet werden können, sei doch eine sehr hypothetische Größe und nicht er- und anrechenbar.